Was ist neu

Fin de siècle – Mein Kaiser

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10.10.2004
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Fin de siècle – Mein Kaiser

Der Kaiser war ein alter Mann. Er war der älteste Kaiser der Welt. Rings um ihn wandelte der Tod
im Kreis, im Kreis, und mähte und mähte.

Joseph Roth – Radetzkymarsch

~♦~​


Langsam verlässt die Kugel den Lauf des italienischen Gewehrs; sie ist schneller als der Schall, schneller, als das menschliche Auge erfassen kann, und doch verweilt sie in ihrer eigenen Zeit, einer Zeit, in der alles stillsteht und Grabesruhe herrscht; so fliegt sie gemächlich über den Isonzo, ein blau erstarrtes Band, Baumruinen säumen tote Ufer, fast meint man, sie würde niemals den Ort ihrer Bestimmung erreichen … doch dann, endlich!, nach einer winzigen Ewigkeit, ist sie an ihrem Ziel angelangt – ein Mann mit dem Rücken zu ihr, vor undenklichen Zeiten aufgestanden –; das Metall seines Helms macht ihr widerstandslos Platz, der Hinterkopf wird eingedrückt, im Hirn erklingen ferne Walzerklänge, Ballsaal einer sterbenden Epoche, die Stirnplatte wird weggesprengt und die Kugel bleibt in der Erde des Schützengrabens stecken.

Stillstand weicht hektischer Betriebsamkeit. Ohrenbetäubender Lärm. Die Kugel ist in der Zeit der Menschen angekommen.

»Den Leutnant hat's erwischt, den Leutnant hat's erwischt!«, schreit jemand.

~♦~

… (Löcher entstehen) …

~♦~​


»Meine Güte, Sebastian, bist du's wirklich?«, fragt mich Karl und sein Blick spiegelt Entsetzen und Erstaunen wider.
»Wie neu«, sage ich wehmütig und klopfe ihm auf die Schulter. Dann fallen wir uns in die Arme. Abgenommen hat er, der Gute. Eingefallenes Gesicht, ausgemergelte Figur, bucklige Schützengrabenhaltung. Ach, Karl.
»Wie hast du das denn geschafft, alter Traumtänzer?«, fragt er liebevoll.
»Nun, Karl …« – ich suche mühsam nach Worten, denn mein Denken ist nicht mehr dasselbe – »… die Ärzte … die Ärzte im Sanatorium haben mir erzählt, dass solche Schussverletzungen weniger oft tödlich enden, als man gemeinhin annimmt. Die Kugel ist durch meinen Kopf gerauscht und doch stehe ich hier. Nur die Narbe ist noch da.«
Dass der Schuss weit mehr hinterlassen hat als das schreckliche Mal auf der Stirn, verschweige ich Karl. Er würde mich für verrückt halten. Vermutlich bin ich … bin ich … (suchen nach Worten) … das auch.
Mein Freund nimmt es hin. Er quittiert das Wunder mit dem entrückten Blick eines Frontsoldaten.
»Kaiser Franz Joseph ist tot«, sagt Karl. Ich nicke betreten. Dass ich von seinem Tod als Erster erfahren habe, verschweige ich ebenfalls.
Es ist kalt. Wir stehen vor einer kleinen Kirche aus Holz, die unsere Kameraden in den Gefechtspausen errichtet haben. Hinter ihr erheben sich die Berge gen eisblauen Morgenhimmel und die Front ist nicht weit. Das Grollen der Artillerie und das Bellen der Maschinengewehre erinnern uns stets daran. Nach einer besonders lauten Detonation ziehe ich unwillkürlich die Schultern hoch und nehme eine gebückte Haltung an. Krieg, grausamer Krieg, du hast mich wieder. Ich sehe ihn förmlich vor mir, ein Ritter von schwarzem Stahl, mit gleißenden Lichtbogenaugen und einer Aura aus Giftgas …
»Komm, gehen wir in die Kirche«, schlägt Karl vor.

~♦~​

Karl setzt sich auf eine Bank und versinkt ins Gebet. Ich stehe daneben und starre ins Nichts. Manche lernen erst im Krieg das Beten, bei mir ist es genau umgekehrt. Seit ich im Sommer die ersten Gasverletzten gesehen habe, weiß ich, dass es keinen Gott gibt. Arme Buben, die röchelnd ihre Lungen erbrechen. Blinde Augen, die schreien: Mama, hilf mir doch, lass mich nicht allein …
Kein Gott hätte so etwas jemals zugelassen, nicht einmal der kindische Rachegott aus dem Alten Testament. Der Krieg hat mich vom Glauben befreit, doch glücklich kann ich nicht darüber sein. Mir fehlt der Halt. Einen Halt, den Karl noch hat. Guter Karl. Man kann förmlich sehen, wie ihn das Beten wieder aufrichtet. Stumm spricht er vor sich hin, nur die Lippen bewegen sich und fast meint man, ein inneres Licht sehen zu können, das stärker wird. Ein Lebensfunke, der wieder Kraft gewinnt.
Ich meine, den alten Karl wiederzuerkennen, jenen Leutnant Karl, mit dem ich meinen Dienst in Wien verbracht habe.
Was für Zeiten! Drill in der Kaserne, an manchen Tagen sogar Duelle mit dem Säbel; vom Zimmer aus hat man auf die Ringstraße gesehen, all die geschäftigen Menschen dort … Und am Wochenende raus aufs Land, zum Kartenspielen, zum Lustwandeln, zum Soupieren im Wienerwald – Oder, oder … (suchen in freudiger Erinnerung) … in Ausgehuniform ins Burgtheater, fesch war ich, die Leute hatten Respekt, zogen den Hut vor mir …
Gott zum Gruße, Herr Leutnant! Ein wunderbarer Abend heute, nicht wahr? Kommen S' doch mit auf ein Glaserl Sekt! Aber ich bitt' doch, es wäre mir eine Freude! – Habe die Ehre, Herr Leutnant, und grüßen S' die Verlobte von mir!

Echos aus der Vergangenheit.

Heute hofiert mich höchstens der Tod.

»Das Theater hast du abgöttisch geliebt, nicht wahr, mein Bub?«, sagt eine Stimme hinter mir.
Er ist wieder da. Der Grund, warum ich glaube, den Verstand zu verlieren. Oder habe ich ihn schon verloren? Der Grund, warum ich hier stehe, warum wir hier stehen und der Grund, warum das alles passiert ist. Hinter mir steht ein lieber Schatten aus der Vergangenheit. Hinter mir steht Kaiser Franz Joseph von Österreich.

~♦~​

Ich drehe mich um zu der Stimme, die so vertrauenerweckend und freundlich ist … dass sich … dass sich meine Gedanken an Wahnsinn schnell verflüchtigen.
Der alte Kaiser steht im Torbogen, eine gleißende Sonne im Rücken, und sieht mich mit einem Blick voll Schatten an. Die Uniform blau, die Orden golden, der Backenbart weiß … und hinter ihm sehe ich, als sich meine Augen an die Helligkeit gewöhnt haben … Wiesen, Parkanlagen und Schloss Schönbrunn.
»Doch jetzt bist du wieder hier, mein Bub. Das ist ein Schicksal, dem du dich stellen musst. Aber keine Sorge, mein lieber Sebastian. Dein Kaiser wird dich leiten. Dein Kaiser wird dir helfen.«
Er kommt zu mir und berührt mich freundschaftlich am Arm. Er berührt mich tatsächlich. Es ist nicht der ätherische Griff eines Geistes und schon gar nicht die kalte Umklammerung eines Wiedergängers. Es ist die Berührung eines Menschen. Und ich weiß: Mein Kaiser ist hier, um uns zu retten. Fast hätte ich etwas erwidert, doch dann entsinne ich mich, dass Karl auch anwesend ist. Ich deute auf meinen alten Kameraden und Kaiser Franz Joseph nickt verständnisvoll. Vogelgezwitscher grüßt mich noch einmal aus Schönbrunn, dann ist der Spuk vorbei. Sommertag weicht Novemberdämmerung und die Wirklichkeit hat mich wieder.
Karl hat sein Gebet beendet und sieht mich mit glasigen Augen an.
»Gut«, sagt er, »dann werde ich dich mal den Männern vorstellen. Sind viele neue Gesichter dabei. Das Kommando will, dass du es ruhig angehst. Kommt schließlich nicht oft vor, dass jemand aus dem Totenreich zurückkehrt.«
Mit neuem Mut verlassen wir die Kapelle. Die Lücke, welche die Religion bei ihrem Rückzug hinterlassen hat, wurde vom Kaiser mit neuer Zuversicht gefüllt. Ich fühle mich überraschend gut. Karl hat seinen Glauben, ich habe meinen Kaiser. Und irgendwie habe ich das Gefühl, dass sich meine Stütze als die bessere erweisen wird.

~♦~​

Die Männer lagern auf nacktem Fels abseits der Kirche. Manche spielen Karten, andere unterhalten sich oder lesen Briefe. Es ist Karls Kompanie. Für die nächsten Wochen bin ich ihr zugeteilt; ich soll aushelfen, bis ich mich wieder in der Lage sehe, eine … eine … (löchriges Denken) … eigene zu übernehmen.
Karl lässt antreten. Ein trauriger Haufen. Das liegt nicht nur am Zustand der Männer, sondern auch daran, dass die schönen blauen Uniformen mit den bunten Kragenstreifen gegen ihre feldgrauen Pendants ausgetauscht wurden. Lebendige Monarchie, der Zweckdienlichkeit des Krieges geopfert. Grau in Grau von Fels und Mensch.
Karl spricht ein paar Worte, die ich vernehme, ohne sie wirklich zu hören. Es sind die immer gleichen Phrasen von Pflicht und Ehre, die nichtssagend an den entseelten Gesichtern abperlen. Erst als Karl vom Tod des Kaisers erzählt, kommt Bewegung in die Mienen der Soldaten und ich erkenne die Menschen dahinter. Eine leise Ahnung an glanzvolle Zeiten kommt auf …
Und ich denke: Tröstet euch, Männer, euer Kaiser ist zwar tot, aber näher als jemals zuvor.
Und ich hoffe inständig, dass er jetzt erscheint und ihnen neuen Mut zuspricht. Doch nichts ändert sich: kein Vogelgezwitscher belebt das Tal, kein Sommerduft schwebt in der Luft und kein … und kein … kein Kaiser Franz Joseph erscheint. Die Sonne geht auf, bescheint unsere Hoffnungslosigkeit und bringt keine Wärme.
Karl hat geendet und gibt das Wort an mich weiter.
Ohne kaiserlichen Beistand bin ich nicht in der Lage, meine Zuversicht auf die Männer zu übertragen. Und so spreche ich ein paar Worte, ohne etwas zu sagen. Und die entseelten Gesichter der Soldaten kehren wieder.

~♦~​

Es wird ernst, noch heute Nacht müssen wir an die Front. Als Ablöse für die zusammengeschossene siebte Kompanie. Die letzte Großoffensive der Italiener ist zwar schon ein paar Wochen her, doch das heißt nicht, dass es jetzt ruhig ist. Es gilt, den Tücken eines Abnützungskrieges zu trotzen.
Schweigend machen wir uns auf den Weg, ferne Feuer leuchten, Geruch von Schnee liegt in der Luft und die Front heult immer lauter. Mir ist es, als würde der grausame Ritter mit den Lichtbogenaugen gleich hinter der nächsten Anhöhe hervorlugen.
»Wir haben uns während deiner Abwesenheit tief in den Berg eingegraben«, sagt Karl. »Die wichtigsten Stellungen erreicht man jetzt durch Stollen. Da drüben ist schon einer« – er deutet in die Nacht – »auf einer Seite rein, in der Hölle wieder raus.«
Es ist ein beklemmendes Gefühl, an die Front zu kommen. Die Wahrnehmung verändert sich. Unwichtige Sachen, denen man vorher keine Beachtung geschenkt hat, bekommen plötzlich Gewicht, Angst und Anspannung geben sich ein Stelldichein, und die Welt in all ihren Facetten rückt nahe heran.

Ganz nahe.

Die Welt rückt heran.

Soll ich einen Blick auf die Uhr werfen? … Nein, zu dunkel. Außerdem könnt's einer der Männer sehen und das würde kein gutes Bild abgeben. Wie spät wird's denn sein? … Sicher schon nach acht, um halb sind wir wegmarsch- [HIGHLIGHT]Ӝ[/HIGHLIGHT]
Meine Güte, habe ich mich jetzt erschrocken! Als wär' eine direkt neben uns krepiert. Hoffentlich hat's keiner gesehen … bin in den letzten Monaten ganz schön schreckhaft geworden … 's waren gute Monate, besonders, als mich die Júlia heimlich jeden Tag besuchen gekommen ist, einmal hat sie mir Tafelspitz mit Kren mitgebracht, die Liebe … Wann war das? Mitte Oktober, glaub' ich … mir kommt's vor, als wär' es schon Jahre he- [HIGHLIGHT]Ӝ[/HIGHLIGHT]
Noch ein Krepierer! Diesen Frontschweinen macht das nichts aus, die zucken nicht mal mit der Wimper. Ah, da ist er ja, der Stolleneingang! Die da vorn verschwinden schon wie die Wiesel im Bau, als Kind wäre ich sicher ganz wild darauf gewesen, die Geheimnisse dahinter zu erkunden, doch jetzt wär' ich am liebsten daheim …
(Elternhaus) … daheim … (Sommerferien) – – –;
An was hab' ich grade gedacht? Bin in so einer wehmütigen Stimmung. Mein Kopf macht mich noch ganz fertig. Dunkel ist's hier, nur da und dort ein spärliches Licht. Ah, es wird heller. Die Wände fangen zu leuchten an … woran das wohl liegt? Phosphor vielleicht … der vor mir scheint's nicht zu bemerken … wärmer wird's, so lass' ich mir das gefallen … habe ich gerade eben einen Vogel gehört? Ja, gibt's in den Stollen denn welche? Jetzt riecht's plötzlich nach frisch geschnittenem Gras! Der Gang wird breiter, bald kommen wir im Unterstand raus – und – und – und
– goldener Glanz –
»Da bist du ja, mein lieber Sebastian!«
Himmel, mir ist fast das Herz stehen geblieben! … Steht im vollen Aufputz im Graben; dort, wo er steht, ist aber kein Dreck, sondern Sommerwiese … soll ich was zum Kaiser sagen? Glaub' schon … muss leise reden, könnte sonst jemand hören …
»Majestät haben mich erwartet?« War das jetzt zu laut? Ich glaub' der hinter mir hat's gehört … lustig, im Unterstand wachsen ja Blumen, das muss ich unbedingt der Júlia erzählen, wenn ich heimkomm' …

»Aber mein lieber Bub, was ist denn mit dir los? Der Krieg ist ja ganz nah bei dir! Hab keine Angst, lass mich dir helfen.«
Was macht er denn da? Er berührt mich und …

… und die Welt rückt auf jenen Respektabstand zurück, den sie vorher gehabt hat. Angst und Anspannung verschwinden und ich erfreue mich an den Sonnenstrahlen, die in den Unterstand fluten.
Ich sehe mich um. Ein groteskes Potpourri aus verschiedensten Eindrücken bietet sich mir: die zerschundenen Männer der siebten, durchlöcherte Ausrüstung, Dreck, tote Ratten, Gestank … in seltsamer, gar wunderlicher Eintracht mit Schmetterlingen, prunkvollen Verzierungen, Springbrunnen, Blumenbeeten; es sieht aus, als würde eine ganze Epoche – ein Reich mitsamt dem Kaiser! – im Graben liegen, mit der Wirklichkeit ringen und auf das Ende warten. Schon sehe ich die ersten Blumen sterben, Gras wird dürr … Nur der Kaiser steht trotzig inmitten und sieht mich mit warmherzigem Blick an. Ich will ihn fragen, ob er den Männern nicht Mut machen könne, doch
da

setzt
 das
  Feuer
 ein.​
Und wütet ohne Gnade.

~♦~​


Maschinengewehre besetzt. Je drei Mann. Wir und die siebte. Blick aus dem Graben. Front rot. Karl schreit. Befehl. Dunkle Gestalten. Irrlichter. Der Feind. Da! Da! Kommt näher. Näher! Näher! Zwei. Drei. Vier. Maschinengewehre. Feuern los. Über. Uns. Schlagen. Granaten. Ein.

EIN!

EIN! 

EIN!


Felsen   


Felsen  ​

Felsen   ​
Felsen      ​
Felsen​
Felsen             
         Felsen​
Felsen                       ​

Felsen​
         Felsen

   Felsen​

regnen auf das Holzdach. Vom Unterstand. Panik. Erfasst. Mich. Doch. Ich. Richte. Mein ganzes Denken. Auf den Kaiser – und werde ruhiger. Ich drehe mich um … suche nach ihm. Will ein Abbild Seiner Majestät in mich einschließen um mehr Mut zu bekommen, doch er ist schon weg – (weg ist er) – und so widme ich mich wieder der Front. Zwei unsrer Schützen irren ziellos umher, ich packe mir einen, brülle ihn an, höre mich nicht brüllen, verschrecktes Gesicht vor Flammenhölle, Abkehr in die erste Reihe.
In meinen Ohren knackt es vom Druck der Detonationen, ich reiße den Mund auf, damit sich meine Trommelfelle nicht verabschieden, drehe mich zu seinem Kameraden um, den ich aus dem Blickfeld verloren habe –
Und da
in diesem Moment –​
da sehe ich es.​
Etwas, das ich bis jetzt, bei aller Hoffnung, für unmöglich gehalten habe. Und doch ist es wahr. Der Soldat kauert im hintersten Winkel, ein Abglanz der Feuerstöße flackert über sein Gesicht …
Und Franz Joseph ist bei ihm.
Der alte Kaiser redet auf ihn ein, reicht ihm die Hand, hilft ihm beim Aufstehen, gibt ihm einen freundlichen Klaps auf die Schulter und der Soldat kehrt frohen Mutes ins Gefecht zurück. Nichts scheint ihn mehr ängstigen zu können; Ruß und Pulverstaub vernebeln ihm die Sicht, das schwere Feuer zeichnet Bilder des Grauens, Geschützdonner dringt bis ins Mark … doch der Mann wandelt so traumsicher durch die Hölle, als befände er sich in Wirklichkeit woanders.

Und ich stehe daneben, sehe zu, kann es nicht fassen.

~♦~​

Irgendwann in tiefer Nacht hört es auf. Donner verebbt, Knattern erstirbt. Stille dröhnt ungewohnt in meinen geschundenen Ohren. Unsere Artillerie feuert noch, doch ich höre sie nicht; sehe nur die Explosionen am anderen Ufer des Isonzo.
Schnee fällt. Die Verwundeten werden versorgt. Die Toten weggebracht. Ein Stöhnen und Wimmern liegt in der Luft, dringt bis ins Herz und wütet dort. Ich kann die Tränen nur mühsam zurückhalten.
Keine Ausbildung der Welt hätte uns auf so etwas vorbereiten können. Ich muss an die Manöver denken, die wir vor dem Krieg durchgeführt haben …

… die Gefechte hatten so etwas Glanzvolles, Ehre lag greifbar in der Luft. In unseren bunten Uniformen stürmten wir gegen den Feind, von einem Feldherrenhügel aus erhielten wir die Befehle und über uns allen wachte der Allerhöchste Kriegsherr, Relikt einer vergangenen Zeit.

Jetzt ist alles anders: Farbe ist aus Kleidern und Gesichtern gewichen, Befehle werden per Feldtelephon durchgegeben und der Tod kommt aus kilometerweit entfernten Geschützen.
Karl ist mit der Truppe beschäftigt und ich nutze die Gelegenheit, um mich in den Stollen umzusehen. Ich habe ihn aus den Augen verloren, jenen braven Soldaten, dem der Kaiser auf die Beine geholfen hat. Ich bin mir aber sicher, dass er sich irgendwo hier aufhält.
Die Dunkelheit umfängt mich, lässt mich mit meinen Schritten allein. Ich taste mich durchs Labyrinth, ohne ein konkretes Ziel vor Augen zu haben … nur die Suche selbst … die Suche selbst. Ich vernehme Lachen und stolpere in eine spärlich erleuchtete Höhle. Ein Soldat hockt auf einer Munitionskiste, putzt seine Waffe. Ich kann sein Gesicht kaum erkennen. Als er mich sieht, springt er auf und salutiert. Ich erwidere den Gruß nachlässig und will schon gehen, als er mich fragt:
»Sie sehen ihn auch – nicht wahr, Herr Leutnant?«

~♦~

(Löcher plagen)

~♦~​


Karl stirbt. Er ist nicht verwundet, ist nicht krank. Aber er stirbt. Ich sehe meinen alten Freund dahinschwinden unter der Last des Krieges und kann nichts dagegen machen. Der Krieg zehrt ihn aus wie ein öliges Krebsgeschwür, macht ihn schwach, müde, blicklos; Gedanken von Tod und Tod und Tod wüten im Kopf und zerschlagen all das Schöne und Gute, das meinen Freund so schätzenswert gemacht hat.
Morgens, mittags, abends; Sonnenauf- und Sonnenuntergang – Hand in Hand mit der Zeit nimmt sein Verfall erschreckende Ausmaße an. Er reagiert kaum noch auf Worte, scherzt nicht mehr, erfüllt seine Pflicht wie eine Hülle, die längst von ihrer Seele verlassen wurde. Wann hat er mich das letzte Mal »Traumtänzer« genannt? Früher hat er das ständig gemacht; heute scheint ihn dieses Wort an die verlorene Zeit zu erinnern.

Traumtänzer …

… Traumtänzer​

Traumtänzer

Winter war's, es schneite, und die Saison war in vollem Gange. Ganz Wien wiegte sich im Walzertakt, die Straßen leuchteten festlich, Fiaker waren dick eingemummt, Trams mühten sich durch Schnee und Karl und ich standen am Balkon der Oper. Es war eine typische Ballnacht. Des Tanzens müde genossen wir das glitzernde Wien des Fin de siècle und rauchten schweigend unsere Kaiserlichen.
»Und, wie ist sie denn so?«, fragte ich meinen Freund schließlich.
»Die Júlia?« Karl grinste verhalten und strich sich über den Schnurrbart. »Mädel aus Böhmen, Kleinadel. Wäre ein …
gewisser Aufstieg für mich, wenn ich sie für mich gewinnen könnte.«
Dabei streifte mich kurz sein missbilligender Blick. Ein Blick, in dem all seine kleinen Minderwertigkeitsgefühle in Eintracht tanzten.

(Sebastian und Karl. Ein hoher Herr und sein Freund. Der hohe Herr, der seinen Freund unterstützt. Der Freund, der die Almosen annimmt und sich dafür schämt. Über Jahre und Jahre …)

»Wäre wirklich ein Aufstieg für mich.« Er blies Zigarrenrauch in die Winterluft. Frustration schwang hörbar mit.
Ich klopfte ihm den Schnee von den Schultern. »Und, ist sie begeistert von dir, die Dame …?«
Karl seufzte und blickte auf seine Stiefel. »Ich fürchte nicht. Am Anfang ging es noch ganz gut, doch dann …« – er packte das Portepee seines Säbels – » … doch dann haben meine Stiefel ihr Kleid beschmutzt. Ist beim Tanzen ja möglich. – Verdammte Schuhwichse!« Er nahm seine Kaiserliche und warf sie in die Nacht. »Als sie das gemerkt hat, ist sie mir ein paarmal mit Absicht auf die Füße getreten und hat das Weite gesucht.«
»Bedauerlich. Der entgeht was.«
Insgeheim freute ich mich. Das war schändlich und ich schämte mich dafür. Aber eine Frau hätte nur einen Keil zwischen uns getrieben.
»Vergiss die Weiber doch einfach, Karl«, sagte ich, um ihn aufzumuntern. »Unsere Generation ist eine Ansammlung von weinerlichen Walzertänzern. Wir vegetieren dahin, ohne Richtung, ohne Ziel. Weißt du, was uns wirklich guttun würde?«
Karl sah mich fragend an.
»Ein Krieg. Ein schöner, erfrischender Krieg. Er würde das Beste aus uns rausholen. Wie gerne würde ich –«
»Sebastian?«
»Ja?«
»Das wünscht du dir nicht. In Gottes Namen, das kannst du dir nicht wünschen.« Diesen Blick würde ich nie vergessen. In Karls Gesicht schienen sich namenlose Schrecken einer nahen Zukunft widerzuspiegeln.
»Wir sind Offiziere Seiner Apostolischen Majestät Kaiser Franz Joseph des Ersten. Wir können nur im Krieg Erfüllung finden.«
»Ein Krieg wäre der Untergang. Nichts bliebe übrig.«

Darauf folgte Schweigen.

Ich verdrängte Karls widersinnige Äußerung, blickte auf die funkelnde Stadt – Pfützen spiegelten golden die Straßenlaternen wider – und wurde mir des Momentes gewahr. Dieses Momentes in all seiner Pracht und Einzigartigkeit. Selten hatte ich mich so beseelt gefühlt, selten war ich so glücklich gewesen. Lag es an der Schadenfreude? War ich so tief gesunken? Egal: Ich musste ihn festhalten. Einen Anker für die Erinnerung werfen.
»Habe ich dir schon von der Theorie der Momente erzählt?«, fragte ich Karl.
Der legte den Kopf schief. »Nein. Hört sich aber interessant an.«
»Das ist es auch. Pass auf: Jeder denkwürdige Moment existiert nicht nur in einer bestimmten Zeitspanne, sondern währt bis in alle Ewigkeit. Jede denkwürdige Sekunde der Welt kann also aufgesucht und wieder und wieder erlebt werden.«
Karl steckte sich zitternd eine neue Kaiserliche an. »Seltsame Theorie. Und wie soll das funktionieren mit dem Aufsuchen von Momenten?«
»Man muss sich von seiner Körperlichkeit befreien. Man muss sterben.«
Karl grinste. »Großartig. Ich sag's dir dann, wenn es soweit ist.«
»Ich bin noch nicht fertig. Es funktioniert nämlich auch umgekehrt. Manchmal kommen
uns die Momente besuchen. Und können wieder und wieder erlebt werden. Ganze Zeitalter.«
»Und die Zeitalter müssen tote Zeitalter sein?«
»Dessen bin ich mir nicht sicher. Aus unserer Sicht vielleicht. Aus ihrer Sicht womöglich nicht. Sie sind ja ewig.«
»Richtig verquer. Ist die Theorie von dir, Sebastian?«
Ich nickte und starrte ein wenig beschämt auf die schneebedeckte Balkonbrüstung.
»Famos. Du bist ja ein richtiger Traumtänzer.«
Mein Blick wanderte zu Karls dreimal verfluchten Stiefeln.
»Im Gegensatz zu dir schon, Karl. Im Gegensatz zu dir schon.«

Karl brach in Gelächter aus.

Ich fiel mit ein.

Traumtänzer.

Karl verdrängt das Wort, so wie er die alte Zeit verdrängt. Möchte nicht an sie erinnert werden, weil es ihm zu viele Schmerzen bereiten würde. Doch diese Zeit ist nicht da, um verdrängt zu werden. Diese Zeit ist da, um ihrer erinnert zu werden.
Und um erlebt zu werden, fügt eine leise Stimme in mir hinzu.
Traumtänzer, würde der alte Karl jetzt wohl sagen. Ach, Karl.
Sein Blick geht durch mich hindurch und scheint irgendwas in unerreichbarer Ferne zu suchen. Vielleicht den Frieden, vielleicht den Tod, das Ende aller Dinge? Doch auf die Zukunft zu setzen ist zwecklos; man muss sein Heil in der Vergangenheit finden. Das wird immer mehr zur traurigen Gewissheit. Ich versuche, ein Gespräch über frühere Zeiten zu beginnen. Den alten Karl aus der Reserve zu locken.
»Karl, erinnerst du dich noch an den Abend, als ich –«

(die Júlia kennenlernte)

»– als ich dir von der Theorie der Momente erzählte?«
Zuerst reagiert er nicht. Doch dann sehe ich so etwas wie Freude Karls Augen aufblitzen. Ein goldener Glanz, der alsbald erlischt.
»Das war vor drei Jahren, oder?«, fragt er mit schleppender Stimme.
»Vor dem Kriege, ja. In der alten Zeit.«
Ich nehme den Feldstecher und mustere die italienischen Linien. Ich sehe Geschützrohre in verschneiten Bergflanken staken, Gräben sich windend den Felsen folgen … und einen schwarzen Ritter, der die Front beaufsichtigt. Er sieht zu mir herüber und seine Augen blitzen so hell, dass ich vor Schreck den Feldstecher fallen lasse.
Karl scheint mein Missgeschick nicht bemerkt zu haben. Überhaupt ist er so entrückt von allem Guten, dass nichts mehr mit ihm anzufangen ist. Unser Gespräch ist beendet, bevor es überhaupt begonnen hat. Erstickt in seiner Resignation.

Ich blicke auf meine Liste.

✓ Motivation der Truppe
✓ Ernährungssituation
✓ Ausrüstung
✓ Zustand der Befestigungen​

Inspektion beendet. Alle Punkte abgearbeitet und protokolliert; die niederschmetternde Wirklichkeit haben wir jedoch nicht vergegenwärtigt. Können es auch nicht. Abgefrorene Beine, Munitionsknappheit, eisiges Schweigen, ausbrechende Nationalitätenkonflikte. Alle Völker Österreichs im Schützengraben. Wenn der Krieg nicht wäre, hätten sie sich schon längst gegenseitig den Hals umgedreht. Deutsche und Magyaren, Tschechen, Slowaken, Polen, Kroaten, Ruthenen … diese Kinder einer mittelalterlichen Dynastie. Wir Offiziere halten sie zusammen. Wir, die ordnenden Kräfte einer toten Zeit.
Die dennoch weiterlebt.
Ich … ich sehe die Realität und verneine sie im gleichen Moment.
Karl hat längst resigniert. Hat die Wirklichkeit erkannt. Und jetzt stirbt er, dieser Bewahrer alles Guten, mein treuer Freund. Ich muss ihn irgendwie von hier wegbringen, ihn retten. Doch was machen in einer Zeit, die einem nur die Flucht in die Vergangenheit lässt?

~♦~

(Löcher schweigen)

~♦~​


Er ist Ruthene. Seinen Namen kann ich nicht behalten. Ruthenische Namen sind flüchtige Gesellen. Wir sitzen in der Höhle, in der wir Munition lagern. Gefechtspause um Mitternacht. Schüsse hallen wundersam in den Stollen.
»Wann haben Sie ihn das erste Mal gesehen, Herr Leutnant?«, fragt mich der Ruthene und putzt dabei sein Gewehr. Er spricht das raue Deutsch eines Menschen, der diese Sprache erst im Kasernenhof gelernt hat.
Ich versuche mich an die erste Begegnung mit dem Kaiser zu erinnern, aber mein Kopf … mein Kopf legt mir … aber mein Kopf legt mir Steine in den Weg.
Himmel, wann war das noch?, denke ich und durchstreife die löchrigen Pfade der Vergangenheit. Ich kann noch ganz genau den goldenen Glanz im Waggon sehen, doch der Moment – (und nicht nur der Moment allein) – scheint aus der Zeit gefallen zu sein. Es hätte genauso gut im Sommer sein können. Oder zu Kriegsbeginn. Franz Joseph erscheint mir das erste Mal und ich erinnere mich nicht mehr an den Zeitpunkt. Ratlose Stille breitet sich im Dunkel aus und gibt dem Ruthenen Antwort.
»Sie wissen es nicht mehr, nicht wahr, Herr Leutnant?« Der Ruthene grinst. Goldkronen blitzen im schummrigen Licht der Lampen.
»Ich denke … nein, ich glaube … ich glaube, dass er mir genau zu seinem Todeszeitpunkt begegnet ist.«
»Aber sicher sind Sie sich nicht?«
Ich werde wütend. »Ist das denn so wichtig?«, frage ich ihn barsch.
»Sehr wichtig sogar, Herr Leutnant. Denn wenn Ihnen diese Erscheinung schon vor dem Tod des Kaisers begegnet ist – und wenn auch nur kurz vorher! – bedeutet das, dass es sich um keinen Geist handelt.«
»Kein Geist? Und was dann?«
Der Ruthene legt das Gewehr beiseite und sieht mich mit seinen seelenlosen Kriegeraugen an.

»Lebendige Vergangenheit, Herr Leutnant. Lebendige Vergangenheit.«

~♦~​

In der Höhle wird es merklich heller. Es ist ein goldenes Licht, das hinter den Kulissen der Welt zu brennen scheint, sie zu durchdringen sucht.
»Sehen Sie das auch?«, frage ich den Ruthenen.
»Ah! Es fängt wieder an, Herr Leutnant.«
Überall in der Höhle sprießen Grashalme, Blumen erblühen und Grillen zirpen in der Sommerluft.
»Haben Sie eine Vorstellung, was das sein könnte?«
»Es ist die alte Zeit, Herr Leutnant. Sie sucht nach uns.«
Ich höre so etwas wie … Walzermusik, die sich unter die Geräusche des Sommers mischt. Als würden in einem Pavillon unweit entfernt ein paar Musiker spielen. Jetzt ist es deutlicher! Ein Stück von Johann Strauss. Der Name ist in ein … ( ) … gefallen.
»Das ist das Fin de siècle«, hauche ich. Der Ruthene sieht mich fragend an.
»Das lange Ende des neunzehnten Jahrhunderts«, füge ich hinzu.
Der Ruthene steht auf und verlässt die Höhle. Ich nehme meine Waffe und folge ihm.
Es wird immer stärker. Ich höre jetzt deutlich die Geräusche einer Großstadt. Es ist, als wären wir gerade im Prater gewesen: Grünflächen, Wursteltheater, Riesenrad … und würden uns jetzt dem Herzen Wiens zuwenden. Autos hupen, Pferde scheuen, Fassaden der …

|Ringstraße|​

… schälen sich aus der Dunkelheit. Palais an Palais reiht sich die Pracht der österreichischen Bourgeoisie. Ich weile in einem rattenverseuchten Loch am Isonzo und beschreite lebendige Vergangenheit. Die Wände des Stollens sind wie ein brüchiger Damm, und das Fin de siècle ist das Wasser, das aus tausend Ritzen dringt. Geräusche, Gerüche, visuelle Eindrücke: alles vermischt sich mit der Wirklichkeit, nimmt sie ein. Ich muss mittlerweile in der Stellung angekommen sein; Maschinengewehre säumen den Straßenrand und richten ihre Läufe gegen Häuserfronten. Sternenklare Nacht blitzt immer wieder in den Fassaden auf. Dunkelblitze sehen einmalig aus. Ein Lichtverschlingen. Eine Militärkapelle, fern, fern, spielt den Radetzkymarsch. Granateinschläge mischen sich drunter, sorgen für Dissonanzen.
»Habt Acht!«, befiehlt eine Stimme und ich weiß nicht, aus welcher Welt das Kommando kommt.
Der Ruthene steht schon stramm und wird argwöhnisch beäugt. Mir wird schlagartig bewusst, dass wir nicht allein im Schützengraben sind.
»Seine k.u.k. Apostolische Majestät, unser Allerdurchlauchtigster Fürst und Herr, Franz Joseph der Erste, von Gottes Gnaden Kaiser von Österreich und König von Ungarn, beschreitet die Front!«

Und der alte Kaiser kommt. Und das Atmen fällt mir schwer. Tränen sammeln sich in meinen Augen.

~♦~​

Er trägt einen Paradehut mit einem Schmuck aus langen grünen Papageienfedern, die beim Gehen wippen. Der Orden vom Goldenen Vlies glitzert in der Sonne und liegt doch im Mondenschein. Er bleibt vor mir und dem Ruthenen stehen und beäugt uns interessiert.
»Meine braven Krieger«, sagt der greise Kaiser. »Tapfer verteidigt ihr das Haus Habsburg und doch sehe ich, dass ihr daran zerbrechen werdet. Am Ende wird die Monarchie am Schlachtfeld der Ehre fallen, und es gibt nichts, was das verhindern kann. Sebastian, mein lieber Bub« – er schaut mir fest in die Augen und ich bemerke zum ersten Mal, wie klein er eigentlich ist – »ich weiß, dass du deinen Freund mit dem gebrochenen Blick zu mir nach Wien holen willst. Es gibt da nur ein Problem …« Der Kaiser weist zur Häuser-Front. Blitzende Nacht.
»Der stählerne Moloch hält ihn gefangen. Macht ihn schwach, müde, teilnahmslos. Willst du Karl tatsächlich retten, so musst du dem Krieg selbst gegenübertreten.«
Der Kaiser macht eine ausholende Geste Richtung Soldaten. »Alle hält er sie gefangen, der Krieg. Alle! Saugt Hoffnung und Erinnerung aus ihnen, lässt Ehre vergessen und Vergangenheit zu einem fernen Traum werden.«
Die Granateinschläge kommen immer näher und ich spüre, wie mich der grausame Ritter packt. Seine Lichtbogenaugen flackern gefährlich. Von Ferne höre ich Glocken. Hektisch geschlagene Glocken. Keine Kirchturmglocken aus dem Fin de siècle. – Nein, oh nein.

Großer Gott.

»Giftgasangriff!«, brülle ich.

~♦~​

F l i e ß e n d . . . s c h l e i c h e n d . . . t ö d l i c h . Die Gasmasken fliegen nur so aus den Dosen, pressen sich auf Gesichter, Atemnot folgt. Ich muss einen Würgereiz unterdrücken. Meine Maske riecht nach altem Schweiß, konservierte Todesangst. Ich beginne augenblicklich zu schwitzen.
Dann folgt das Warten.
Eine gespenstische Stimmung, die da herrscht im Schützengraben. Schweres Atmen.
Die Gasglocken läuten und läuten. Arbeiten sich Graben um Graben flussabwärts durch, bis sie nah sind.
Ganz nah. Sie spielen ihren Kanon des Untergangs und ich wünschte, sie würden aufhören.
Und wir? Wir harren in ängstlicher Erwartung auf einen Feind, der hoffentlich nie kommen werde.

D o c h er k o m m t .

D o c h er k o m m t .

Zuerst sehe ich nur dünne, beinah unsichtbare Gasfinger, die in den Graben greifen. Fein, so fein, dass ich hoffe, sie mir einzubilden. Doch Hoffnung ist ein schlechter Verbündeter im Stellungskrieg. Dann schlägt die Realität mit voller Wucht zu. Das Gas wird dichter, dichter!, strömt schneller denn je in den Graben, rauscht gnadenlos über mich hinweg . . . h ü l l t m i c h z u r G ä n z e e i n . Ich presse in Panik meine Hände auf die Maske, damit sie vernünftig schließt.
Doch diese Hundesöhne haben die Gaszusammensetzung geändert. Meine Haut juckt wie der Teufel und der Impuls, mir die Maske vom Gesicht zu reißen und mich zu kratzen, wird stärker. Irgendwo hustet jemand.
Verdammter Mist.
»Lasst die Maske oben, ihr Wahnsinnigen!«, brülle ich.
Das Husten wird immer entsetzlicher, bohrt sich durch meine Gedanken. Es ist ein röchelndes Einatmen und ein wildes Herauspressen, das mich schaudern macht.
Ich stelle mir die Gräben der Italiener vor, vollgestellt mit Hunderten, Tausenden Gasflaschen. Sie haben auf günstigen Wind gewartet und dann grinsend die Ventile geöffnet. Jetzt sinkt der Druck in den Gefäßen und ich hoffe, dass es bald vorbei sein wird.

Druck sinkt.
Doch das Husten hält an.
Druck sinkt.  ​
Doch das Husten hält an.

Hör auf! Bitte, bitte, hör auf!, denke ich. Ich wünsche mich in die Eishölle der Antarktis, in die Glut der Wüste. Alles ist besser als das hier. Ich schließe die Augen, atme tief die gefilterte Luft …

Einmal.

Zweimal.

Nehme mir ein Herz und gehe zu dem Gasverletzten. Zwei Infanteristen pressen ihm die Maske aufs Gesicht, doch er hustet so stark, dass sie immer verrutscht. Fleischiger Auswurf quillt unter dem Stoff hervor, tropft auf die Erde. Er beginnt zu zucken. Ich will ihm nicht ins Gesicht sehen, weil ich Angst vor seinen schreienden Augen habe. Der Ruthene ist bei ihm und hält ihm die Hand.
»Bringt ihn ins Lazarett, aber schnell.«
Sie nehmen ihn zu dritt und schleppen den Todgeweihten Richtung Stollen. Ich fasse den Ruthenen am Arm. »Sorgen Sie dafür, dass er es gut hat.«
Der Ruthene nickt. Er weiß, was gemeint ist.
Im Gas steht eine Gestalt. Einen verwirrten Moment lang glaube ich, den stählernen Ritter vor mir zu haben, doch dann kommt sie auf mich zu.
Karl. Rotgeränderte Augen hinter Glas.
»Herrgott, was ist nur mit dir los?«, zischt er mich an.
»Was? Hätte … hätte ich ihn da liegen lassen sollen?«
Karl macht eine resignierende Handbewegung, drängt sich an mir vorbei und lässt mich stehen.
Er wird darüber hinwegsehen. Er muss darüber hinwegsehen. Ein Offizier, der seinen Untergebenen befiehlt, Verwundete umzubringen, ist im Grunde untragbar. Und dennoch angemessen in diesen Zeiten.
Das Gas verflüchtigt sich langsam. Es strömt kein neues mehr nach, und das, was im Graben ist, sammelt sich an tieferen Stellen. Für dieses Mal scheinen wir es überstanden zu haben, doch froh kann ich nicht darüber sein. Ich muss an Karls Augen denken. Und die Worte meines Kaisers kommen mir in den Sinn:
Willst du Karl tatsächlich retten, so musst du dem Krieg selbst gegenübertreten.

Es wird Zeit für einen Befreiungsschlag.
Einen letzten, verzweifelten Befreiungsschlag.

~♦~​

»Und wie wollen Sie das anstellen, Herr Leutnant?«
Eine gute Frage. Ich zermartere mir den Schädel, um sie nicht im Raume stehen zu lassen. Die Frage schwirrt durchs Denken, fällt in dieses, fällt in jenes (…), doch am Ende, am Ende findet sie eine passende Antwort.
Wie von Zauberhand.
Und ich erlaube mir ein Lächeln.
»Der Krieg ist überall. Ich muss ihn nicht erst suchen, ihn mühsam verfolgen. Er wird von sich aus auf die Bühne kommen, der schwarze Moloch. – Granaten?«
»Dort drüben, Herr Leutnant.«
Ich nehme mir zwei und befestige sie am Koppel. Ich blicke auf meine Uhr.
(…)
»Zeit zu gehen. Kommen Sie mit?«
»Gerne, Herr Leutnant.«
Wir verlassen die Munitionshöhle und nehmen den Stollen Richtung Front. Eiszapfen hängen von der Decke, saurer Geruch liegt in der Luft. Ratten flüchten vor unseren Schritten, während der Boden vor Kälte knirscht. Der Föhn hat aufgehört, Frost ist zurückgekehrt. (…)
Karl kommt uns mit gesenktem Kopf entgegen. Zuerst scheint er uns gar nicht zu bemerken, doch dann hebt er den Blick und sieht mich verwundert an.
»Sebastian? Ich dachte, wir –«
»Keine Zeit, Karl. Ich habe es mir anders überlegt.«
»Die im Kommando wollen dich sehen. Du kannst nicht –«
»Ein andermal. Sag ihnen (…) sag ihnen, dass ich morgen komme.«
»Bist du verrückt? Du kannst das nicht einfach hinausschieben!«
Ich hole tief Luft und meine Verzweiflung bricht sich Bahn.
»Eines Tages wirst auch du wieder den goldenen Glanz alter Zeiten sehen, Karl. Dafür sorge ich.«
»Was?«
Habe ich das jetzt wirklich gesagt? Ich wünschte, ich hätte es nicht.
»Also gut«, schiebe ich hastig hinterher. »Also gut. Geh schon mal voraus, ich komme gleich nach.«
Karl sieht mich misstrauisch an, doch dann bricht sein Widerstand. Er macht den Weg frei und lässt uns vorbei. Doch ich kann seinen Blick im Rücken spüren. Rotgeränderte Augen, die matt und gebrochen in der Dunkelheit wachen. Der Weg macht eine Biegung (…) und ich bin froh, dass uns Karl nicht mehr nachstarren kann.
Am Ende des Stollen wende ich mich an den Ruthenen.
»Sie bleiben hier und passen auf. Wenn der Leutnant kommt, dann halten Sie ihn auf. Wenn nötig, mit Gewalt.«
Der Ruthene nickt, zieht demonstrativ sein M95 vom Rücken und präsentiert mir den Kolben.
Ich klopfe ihm auf die Schulter und gehe weiter.
(…)
Im Schützengraben herrschen Eis und Verzweiflung. Schnee liegt auf Maschinengewehren, Schnee liegt auf Toten. Kälte weilt in den Augen der Lebenden. Frostiges Schweigen, unterlegt von Schüssen. (…) Hinter meinen Rücken beginnen die Männer zu wispern, doch ich höre sie kaum noch.

Denn es hat begonnen. Das Fin de siècle sucht wieder nach mir.

~♦~​

Die Front ist ein brüchiger Damm, und das Fin de siècle ist das Wasser, das aus tausend Ritzen dringt. Verzweiflung weicht beschwingter Lebenslust, Soldaten werden zu befrackten Männern mit Zylindern, Frauen in Abendkleidern erscheinen
– »‘n Abend, die Gnädigste« –,
bereichern graziös die Szenerie, und der Boden verwandelt sich, sachte, sachte, in karmesinroten Samt.

Neben mir streckt sich eine zerklüftete Felswand dem Himmel und der Nacht entgegen, verliert sich in Schwärze.

Einen Augenblick später war sie einer hell erleuchteten Fassade gewichen. Ein Gebäude, das mir merkwürdig bekannt vorkam.

Auch – auch wenn sich meine Erinnerung noch bedeckt hält. Ein zerschossener Holzverschlag versperrt mir den Weg …
… Doch er verwandelte sich in eine herrliche Flügeltür, die ich ohne Probleme öffnen konnte. Stimmengemurmel strömte mir entgegen, umfing mich wie ein lieb gewonnener Freund.

Die Bilder der Vergangenheit … drängen, tanzen einem Reigen gleich um mich herum. Durch Schutt und Trümmer kämpfe ich mich vorwärts, einem unbestimmten Ziel entgegen –
– Aber die Ungewissheit wurde mit jedem Schritt klarer, und am Ende wusste ich, wo ich war. Wo ich hingehörte. Ich war im kaiserlich-königlichen Burgtheater angekommen, dem Haus der österreichischen Seele.

Drückende Spannung martert die Front:
Ein Ächzen und Knarren liegt in der Luft;
dann brach der Damm.  
Und der Weltkrieg wich zur Gänze der alten Zeit.

~♦~​


Die Leute hatten Respekt, zogen den Hut vor mir.
»Gott zum Gruße, Herr Leutnant! Ein wunderbarer Abend heute, nicht wahr?«
»Schön Sie zu sehen, Přemysl. Wie geht es Ihnen?«
»Hach, die Geschäfte, die Geschäfte … Ich will das hier nicht näher ausführen – Kommen S' doch mit auf ein Glaserl Sekt!«
»Bedaure, keine Zeit.«
»Aber ich bitt' doch, es wäre mir eine Freude!«
»Tut mir leid, aber die Liebste ist schon ganz ungeduldig. Sie wissen ja, wie die Frauen sind.«
»Verstehe. Habe die Ehre, Herr Leutnant, und grüßen S' die Verlobte von mir!«
Přemysl verschwand in der Menge, und ich übergab der Garderobiere die Mäntel. Dann ging ich zurück zu Júlia, die im Foyer auf mich wartete. Sie leuchtete aus dem Volke heraus; ein inneres Licht beseelte ihre Gestalt, ihre Bewegungen. Als sie sich zu mir umdrehte, da blitzten ihre Augen neckisch und ein Lächeln stahl sich in ihr Gesicht.
»Das hat ja gedauert«, schalt sie mich spöttisch. »Mir ist es, als wärest du Jahre weggewesen.«
»War ein großer Andrang bei der Garderobe. Hab’ Přemysl getroffen. Er lässt dich grüßen.«
Júlia sah sich suchend um. »Dieser blasierte Lackel … komm, lass uns gehen, bevor er noch hier aufkreuzt.«
Sie nahm meine Hand und zog mich die Treppe hoch.
»Was ist eigentlich mit Karl?«, fragte sie mich. »Kommt er heute noch?«
»Ich habe keinen Schimmer. Er war so seltsam in letzter Zeit …«
Júlia sah mich fragend an.
»… Du weißt ja, warum.«
Júlia senkte beschämt den Kopf.
»Ach, Sebastian … er kann mir deswegen nicht ewig grollen. Vielleicht kommt er ja doch noch.«
»Ja, vielleicht.«
Ich sah mich um, ließ den Blick durch das Foyer schweifen …

(– – große, kleine …  
… oh, was für ein schöner Hut!
… trägt das bunte Leben spazieren …

… sind das dorische Säulen oder korinthische?

– hübsche Lampen da auf den Balustraden …      ​

   … spenden warmen Schein …
… Licht, das uns durchdringt …

… ob s’ den Läufer ständig reinigen müssen?  
Die stehen aber auch dicht drauf herum …       ​


        … halt! Ist er das?

    Nein, zu groß … armer Kerl, er tut mir so leid …
… ‘s sind aber viele Offiziere heute hier – –)


… doch ich konnte ihn nicht entdecken.

Hätte mich auch gewundert. Ich legte meinen Arm um Júlia und wir betraten den Zuschauerraum. Oh, ich liebte das Theater. Es empfing mich mit aller Freundlichkeit, bot mir leutselig Sitzgelegenheit und verwöhnte mich mit berauschenden Stücken, die mir Tränen in die Augen trieben. Unsere Plätze waren im Parterre, weit vorne. Bevor ich Platz nehmen wollte, warf ich noch einen Blick auf die Kaiserloge. Wie schön.
»Schau mal, Júlia, der Kaiser ist heute da.«
Júlia sah nach oben, in ihrem Haar spielte das Licht und ihre Augen glänzten vor Freude. Da standen wir, die Untertanen Franz Josephs und konnten den Blick nicht von ihm wenden. Der greise Monarch wirkte wie ein verwittertes Abbild seiner zahlreichen Portraits; müde sah er aus … und müde war auch das Reich, das er repräsentierte. Wir spürten es. Alle. Langsam verfiel die alte Ordnung, so wie auch der alte Kaiser verfiel. Näher der Legende als dem Leben war er, dieser Schüler Metternichs. Ein Relikt war er, ein Anachronismus; ein Mann, der voller Güte ins zwanzigste Jahrhundert blickte und die Wolken nicht sah, die sich da zusammenbrauten.
Auch hier im Burgtheater fühlte ich die allumfassende Dekadenz, die das Haus Habsburg in ihrer süßen Umklammerung hielt. Ich dachte an den Reichsrat, der von lautstarken Männern beherrscht wurde: verbohrte Individuen, die schrien und trommelten und schimpften. Ich dachte an die Nationalitäten der Monarchie. Zwölf Völker, zwölf Richtungen, ein Völkerkerker. Ich dachte an die glorreiche k.u.k. Armee. Spröder Mörtel in den Fugen des Reiches. Ich dachte an den Beamtenstand. Er bürokratisierte, verwaltete zu Tode, dass es ächzte im Gebälk. Ich dachte an den Adelsstand, der sich auf gottgegebene Rechte besann, während in den Arbeiterquartieren die Leute hungerten. Und die Jugend? Sie tanzte dazu ihren
danse macabre.
Und das alles waren wir. Und das alles war unsere Wirklichkeit; nur schien sie von Tag zu Tag unwirklicher zu werden. – Und wir mit ihr. –

Wir warteten. –

Und wenig später begann es dann, das Stück.

~♦~

(Löcher offenbaren)

(der Vorhang öffnet sich)

~♦~

Vom Untergang der Welt
Eine Abrechnung in zwei Akten​


Personen:
Thronfolger Franz Ferdinand
Eine metallische Gestalt
Paul Nikitsch-Boulles
Erzherzogin Sophie
Fehim Čurčić
Graf Harrach

Und noch ein paar, die mir jetzt nicht einfallen.

Aber wenn ich’s mir recht überlege …

… will ich sie alle haben! Alle sollen es sehen, alle sollen es erleiden. Vom Kaiser bis zum Bettelmann. Alle!


***********************************************************************************

(Erster Akt) …​

Du da vorne. Der Blonde in der dritten Reihe. Dieser goldene Schein. Ich sehe dich. Stehe hier auf der Bühne und sehe dich. Doch du …
… du siehst mich nicht. Ha! Du siehst stattdessen einen Salonwagen. Einen kaiserlichen Salonwagen, der sacht in blaue Dunkelheit getaucht wird. Theater hat was wunderbar Illusorisches. Treibt dir Tränen in die Augen. Doch zurück zu unserer Szene: Ein Mann betritt den Waggon, tastet nach dem Lichtschalter, dreht ihn. Nichts passiert.

PAUL NIKITSCH-BOULLES Auch das noch. Wir sind wirklich vom Pech verfolgt.

Du siehst, wie der Sekretär – oh ja, es ist der Sekretär des Thronfolgers – Streichhölzer hervorholt und Kerzen entzündet. Eins, zwei, drei. Und je mehr Lichter brennen, desto heller erleuchten sie den Waggon: Du siehst schwarze Trauervorhänge, Blumenschmuck, Kränze … es fehlt nur noch ein Sarg. Oder zwei.
Der Thronfolger kommt herein, mustert furchtsam die Kerzen und wendet sich an den Sekretär.

FRANZ FERDINAND Nikitsch, was machen Sie denn für Sachen? Mir ist es, als befände ich mich in einem Grab! Als würde ich … meinem eigenen Begräbnis beiwohnen.

Er erschrickt vor seinen Worten.

NIKITSCH-BOULLES Tut mir leid, Kaiserliche Hoheit, aber wir scheinen vom Pech verfolgt zu sein. Zuerst der defekte Salonwagen, der ausgetauscht werden musste und jetzt die fehlende Elektrizität bei diesem hier. – Spüren S’ das? Es fühlt sich an, als würde irgendwas den Strom … abziehen.

FRANZ FERDINAND Den Strom abziehen?

Es blitzt, und kurz siehst du abseits des Waggons eine große, metallische Gestalt stehen. Ha! Nicht so schreckhaft, mein goldener Schein! Der Thronfolger und sein Sekretär sehen sie jedenfalls nicht, so wie sie auch die Kränze, die Blumen und die schwarzen Vorhänge nicht sehen.

NIKITSCH-BOULLES Es wird schon gutgehen, Kaiserliche Hoheit. Das Manöver und Ihr Besuch in Sarajevo werden gewiss ein voller Erfolg werden.

FRANZ FERDINAND Hätt’ ich nur die Sophie nicht mitgenommen …

*************************************************************************
Als es blitzte und ich diese Gestalt neben dem Salonwagenabteil stehen sah, da spürte ich, dass sie mich direkt anblickte. Júlia erschrak, fasste nach meiner Hand. Und ich …
… ich habe das befremdliche Gefühl, dass mich die Gegenwart direkt aus der Vergangenheit angrinst.
Sie zeigte mir ihre schreckliche Fratze. Im Theater wurde es unruhiger.
*************************************************************************​

Du siehst Kerzen erlöschen, das Waggonabteil wird zur Seite gezogen. Schwärze bleibt zurück. Und mit ihr die Ahnung einer Bedrohung; ein Lauern im Dunkeln. Stimmengemurmel brandet rechts der Bühne auf, vereinzelte Jubelrufe brechen daraus hervor.
Auf der Bühne verdichtet sich die Nacht.

Dann hörst du eine Explosion.

Und dann herrscht Stille.

FRANZ FERDINAND (eine Stimme im Abseits) Herr Bürgermeister, da kommt man nach Sarajevo, um einen Besuch zu machen, und wird mit Bomben beworfen! Das ist empörend! Ich konnte sie gerade noch mit dem Arm abwehren!

FEHIM ČURČIĆ (ebenfalls im Abseits) Kaiserliche Hoheit, ich bin untröstlich. Bitte, bleiben Sie doch eine Weile im Rathaus, bis alle Aufwiegler und Störenfriede gefasst sind.

FRANZ FERDINAND Ich lasse mich unter keinen Glassturz stellen. Wir setzen die Fahrt fort. Unverzüglich!

EINE STIMME Eure Kaiserliche Hoheit können ruhig weiterfahren, ich übernehme dafür die Verantwortung.

Auf der Bühne blitzt es, und kurz siehst du wieder die große, metallische Gestalt. Sie verbeugt sich.

FRANZ FERDINAND Na dann … Dann ist’s ja gut.

Du hörst ein Automobil, das sich im Schritttempo nähert. Zwei Scheinwerfer flammen auf, Licht kämpft gegen Dunkelheit; Menschen fluten die Bühne, in freudiger Erwartung auf den Thronfolger. Da kommt der Wagen auch schon: Der Erzherzog sitzt auf der Rückbank nebst Gemahlin, hier und da die Hand zum Gruße hebend …
Einer der Männer im Auto sagt etwas zum Fahrer.


Der Wagen wird langsamer –

als würde sich vor ihm ein unsichtbares Hindernis auftun –,

      hält.

*************************************************************************
Löcher tauchten in meinem Kopf auf … (sacht) … (sacht) … versorgten ihn mit Erinnerungen an die Zukunft. Eine Klarheit des Grauens durchströmte mein Denken.
»Nein!«, schrie ich. »Nicht stehenbleiben!«
Franz Ferdinand drehte den Kopf und sah mir direkt in die Augen. Vergangenheit blickte der Zukunft entgegen.

*************************************************************************​

Du hast ihn gewarnt.
Doch zu spät. Da fällt er schon, der Schuss.
Die arme Frau des Erzherzogs sinkt getroffen zusammen.

FRANZ FERDINAND Sopherl! Sopherl! Stirb nicht! Bleib' am Leben für unsere Kinder!

Noch ein Schuss!
Der Erzherzog wird in den Hals getroffen, eine Blutfontäne spritzt auf seine blaue Uniform. Er schreit gurgelnd auf, der Kopf kippt im abnormen Winkel nach hinten.

*************************************************************************
Weit und breit war kein Attentäter auszumachen. Direkt aus dem Nichts schienen sie gekommen zu sein, die todbringenden Kugeln. Aus jenem grauenerregend schwarzen Nichts, in dem kurz vorher die Gestalt gestanden hatte.
*************************************************************************​

GRAF HARRACH Majestät, was ist Euch?

FRANZ FERDINAND Es ist … Nichts.

Da verliert er das Bewusstsein.
Du hast ihn nicht gerettet.
Hast ihn nicht gerettet!
Bald schon ist er tot.
Der Vorhang fällt.

***********************************************************************************

(Zwischenspiel) …​

Im Burgtheater herrschte große Unruhe. Hitzige Diskussionen entflammten, da und dort schluchzte jemand. Vor dem Vorhang und zwischen den Zuschauerreihen hatten ein paar Zeitungsausrufer Stellung bezogen. Laut schmetterten sie die unumstößliche Wahrheit ins Publikum:

»THRONFOLGER IN SARAJEVO ERMORDET! THRONFOLGER IN SARAJEVO ERMORDET!«

Ich drehte mich um und blickte zur Kaiserloge. Doch Kaiser Franz Joseph war nicht mehr da. Júlias Hand suchte nach der meinen und drückte sie.
»Was geschieht jetzt?«, fragte sie mich. Doch ich konnte ihr keine Antwort geben. Die Löcher schwiegen.

»THRONFOLGER IN SARAJEVO ERMORDET! THRONFOLGER IN SARAJEVO ERMORDET!«

»Um die Drecksau ist nicht schad’! Zur Hölle mit der Belvedere-Bagage!«, rief jemand aus den hinteren Reihen. Er bekam erschreckend viel Zuspruch – wildes Klatschen und Fußgetrappel erfüllte das Theater.

Doch dann flaute es ab und Stille legte sich über uns. Die Rufer verschwanden, so schnell sie gekommen waren, und man hatte sich an die Tatsache gewöhnt. Der Thronfolger war tot. Das Leben ging weiter.
(…) So dachte ich jedenfalls.
(…) Doch ich täuschte mich gewaltig.

~♦~​

Irgendetwas flatterte plötzlich über unseren Köpfen. Ich sah nach oben und traute meinen Augen nicht: riesige Banner schwebten in der Luft, verkündeten mit flammenden Worten Rache für die Ermordung Franz Ferdinands.

Viele Völker, viele Sprachen: ein Manifest.

An Meine Völker!
Es war Mein sehnlichster Wunsch, die Jahre, die Mir durch Gottes Gnade noch beschieden sind, Werken des Friedens zu weihen und Meine Völker vor den schweren Opfern und Lasten des Krieges zu bewahren.
Im Rate der Vorsehung ward es anders beschlossen.
Die Umtriebe eines haßerfüllten Gegners zwingen Mich, zur Wahrung der Ehre Meiner Monarchie, zum Schutze ihres Ansehens und ihrer Machtstellung, zur Sicherung ihres Besitzstandes nach langen Jahren des Friedens zum Schwerte zu greifen …

Népeimhez!
Leghőbb vágyam volt, hogy az Isten kegyelméből még hátralevő éveimet a béke műveinek szentelhessem és népeimet a háború áldozataitól és terheitől megóvhassam.
A gondviselés másként határozott.
Egy gyűlölettel telt ellenség üzelmei kényszerítenek, hogy a béke hosszú esztendei után kardot ragadjak monarchiám becsületének védelmére, tekintélyének és hatalmi állásának megóvására és területi épségének biztonságára …

Mým národům!
Bylo mým nejvroucnějším přáním, abych léta, která z Boží milosti jsou Mi ještě dopřána, mohl zasvětiti dílům míru a uchránil Svoje národy před těžkými obětmi a břemeny války.
V radě Prozřetelnosti bylo jinak rozhodnuto.
Pletichy protivníka plného nenávisti nutí Mne, abych na obranu cti Svého mocnářství, na ochranu jeho vážnosti a moci k zabezpěčení jeho državy po dlouhých letech míru chopil se meče …

So gaben die Banner den Willen meines Kaisers kund, und die Reaktion darauf war derart frenetisch, dass ich nur ungläubig staunen konnte. War dies das zersplitterte Reich, das ich kannte? Menschen, die vor kurzem noch die Dynastie verflucht hatten, gebärdeten sich wie die größten Patrioten, Kinder sagen mit hellen Stimmen das »Gott erhalte«, junge Männer konnten es gar nicht erwarten, den Feind abzuschlachten und die Mädchen himmelten ihnen nach und stöhnten wollüstig.
Und da, im größten Vorfreudentaumel, da öffnete sich donnernd der Vorhang.
Ein silberner Ritter harrte dahinter. Hoch zu Ross saß er, ein Schwert in der Scheide, aus der Vergangenheit kommend, den Blick fest in eine glorreiche Zukunft gerichtet.

*************************************************************************
So starre denn auf die Bühne sieh mich in voller Pracht, goldener Schein!
– Erkennst du mich denn nicht?

*************************************************************************​

Die Leute schrien vor Begeisterung.
Der Krieg war endlich da.

~♦~​

Auch ich kannte kein Halten mehr. Ich jauchzte, hob Júlia empor und küsste sie. Und Júlia lachte und die Welt mit ihr. Einig waren wir, ich und meine Verlobte, und einig war mit uns das Vaterland. Ein neuer Geist flammte über das uralte Reich der Habsburger, riss es aus seiner Lethargie. Jahrzehntelange Erstarrung war dahin – als hätte es sie nie gegeben! –, und die Kinder der Monarchie besahen sich staunend und begriffen, was sie aneinander hatten. Alle Völker der Krone waren Geschwister, Probleme lösten sich in Wohlgefallen auf und der liebenswürdigste Kaiser auf Erden gab die Richtung vor.
Und der Krieg, der gute Krieg, hatte uns alle zusammengeschmiedet. Da, auf der Bühne wartete er und blickte in die jubelnden Reihen.
Der Krieg war die Ehre selbst. Funkelnd präsentierte er sich dem Publikum, salutierte, zog sein Schwert, reckte es gen Bühnenhimmel. Jetzt hielt es niemanden mehr auf den Plätzen. Alle standen auf und zollten dem Beschworenen Tribut.

Doch da – (in diesem Moment) – da öffneten sich die Löcher in meinem Geist.

(Ich sehe ich ein Monstrum mit blitzenden Augen …)​

Und ich bekam Klarheit, wer da wirklich auf der Bühne stand. Es waren Löcher in die Zukunft, und …

(… es wartet voller Freude …)​
… ihr Inhalt war so grauenerregend …
(… mich zu verschlingen.)​
… dass ich aufschrie.

Der Schrei ging im allgemeinen Jubel unter. Ich wollte Júlias Hand nehmen und weglaufen, doch ich war wie erstarrt. Die Angst fesselte mich an den Ritter, sowie die Euphorie alle anderen an ihn band. Die Bühne veränderte sich. Dort, wo vorher Schwärze geherrscht hatte, züngelten jetzt Flammen und Schüsse peitschten durch die Luft.

Der Ritter war eine Erinnerung an längst vergangene Zeiten. Eine verklärte Erinnerung, die nicht der Moderne standhielt. Denn die Welt hatte sich gewandelt. Und die Kavallerie war die erste Waffengattung, die der Moderne anheimfiel. Nichts blieb vom Glanz der berittenen Streitkräfte – Dragoner! Ulanen! –, als ein Sturm aus Maschinengewehrsalven ganze Regimenter niedermähte und windende Haufen von brüllenden Lebewesen zurückließ.
Ein Salve erwischte das Pferd des Ritters in der Flanke; es taumelte, stürzte. Der Krieg fiel aus dem Sattel und krachte auf den Bühnenboden. Es schepperte, als wäre die Rüstung leer. Silberne Farbe blätterte ab … Das Metall darunter war schwarz; schwarz wie Fabrikrauch.

Hinter dem Gefallenen erweiterte sich das Bühnenbild, Trennwände wurden weggeschoben und Arbeiter bezogen ihre Stellungen in stilisierten Waffenfabriken. Sie hämmerten, sägten, gossen und schweißten Mordwerkzeuge.
Unter ihrem rhythmischen Klopfen erhob sich der Ritter, langsam, mechanisch.
Zwei Schweißer zogen ihre Lichtbögen über organisch gewachsene Metallstränge, einer von links kommend, der andere von rechts ins Bühnenbild schreitend … bis sie sich in der Mitte trafen. Dort verharrten ihre gleißenden Punkte auf Augenabstand, bis sie der Krieg verinnerlicht hatte. Ein Schatten umfloss sie;
flackernde Augen erwachten.

Musterten.

Starrten.

Der Ritter hatte sich nun zu voller Größe erhoben, ein Moloch, elektrisch, ganz Industrie und vor Tatendrang knisternd. Er nahm sein Schwert, sah es noch einmal an – ein blitzender Traum, gemacht aus Vergangenheit und Ehre – und steckte es zurück in die Scheide.

Eine Hand zog an mir. Wie im Traume wandte ich den Kopf und erblickte Júlia. Sie stand neben mir und war doch einen Erdteil entfernt. »Komm Sebastian« , schrie sie mir aus ferner Verzweiflung zu, »bevor er uns erwischt!«
Und da starben sie auch schon, die Unglücklichen aus der ersten Reihe. Adelige, Bürger, Arbeiter: Alles Freiwillige der jüngsten Stunde und Opfer der frühesten Kriegswochen.
Flammen schlugen von der Bühne über und verzehrten sie. Es mochten Hundert oder auch Hundertausend sein – wer konnte das schon sagen? Denn das Theater vermittelte jetzt die Weite der Steppen Galiziens. Im Staub der Gefechte schmolz das Fleisch von den Knochen der Hineingeworfenen – ein Zerfließen von Leben; eine Feuermühle, in der junge Existenzen zerplatzten und zersprangen.
Der Ritter stand oben, eine Illusion von Ferne im Rücken, und sah, dass es gut war.
Ich riss mich von dem Bild los und ließ mich von Júlia aus dem Chaos führen. Wir hetzten auf den Gang, die Stufen empor – Hitze und Staub an den Fersen –, weiter, immer weiter, über rote Teppiche, Fresken namenloser Hintermänner wechselten sich in Windeseile ab.

*************************************************************************
Wo willst du denn hin, mein goldener Schein? Komm’ auf die Bühne und stell dich mir!
*************************************************************************​

Hinter mir hörte ich den Krieg wispern, ein Rauschen von Millionen Zahnrädern. Eine Maschinerie aus Schmerz, Stahl und Menschenfleisch, die sich nach mir verzehrte. Konnte ich ihm entsagen?

Júlia konnte es.

Wir rannten.

~♦~​

Er wartete auf mich im Schatten einer Treppenflucht. Verloren im Haus der österreichischen Seele, das jeden Moment zusammenzustürzen drohte. Er war allein; keine Diener, Beamten oder Generäle waren bei ihm. Der Kaiser war allein und seine Augen verrieten, dass er es schon sein ganzes Leben gewesen war. Eine wehmütige Schwere lag in ihnen, gemacht aus Zwängen und Schicksalsschlägen.
»Majestät, was in aller Welt –«
»Sebastian, mein lieber Bub«, sagte er und stützte sich auf seinen Stock, »du darfst jetzt nicht weglaufen.«
Woher kannte er meinen Namen? Hatte auch der Kaiser Löcher im Kopf, die ihm Wahrheiten zuflüsterten? Einen Hofstaat aus gewobenem Nichts?
Der Kaiser küsste Júlia die Hand und sie machte einen Knicks, perplex wie sie war.
»Weglaufen wird deine Probleme nicht lösen. Aber ich kann dir Hilfe geben, mein lieber Sebastian. Nicht viel. Aber ein bisserl.«
Er nestelte an seinem Säbel herum, zog ihn umständlich aus der Scheide.
»Ich kann für dich keine Schlacht führen. Ich hab’ es nie können. Kann dir nur meinen Säbel geben; führe ihn mit Stolz.«
Er gab mir seine Waffe und umarmte mich wie einen Freund. Ich spürte die Last und den Reichtum eines langen Lebens auf mich übergehen – –

– – Wir wachsen im Biedermeier auf, erleben die Tage der Revolution, ringen den Widerstand in Ungarn nieder – ein Hoch auf die Heilige Allianz! –, heiraten glücklich, freuen uns über unseren Sohn – Thronfolger, Kronprinz, Hoffnung Österreichs!, reiten in die schreckliche Niederlage von Solferino, verabschieden den Bruder Richtung Mexiko, verabscheuen den Fürsten, schicken unsere Truppen nach Königgrätz, werden aus Deutschland hinausgeworfen, erdulden harte Friedensbedingungen, sehen den Bruder in Mexiko fallen … Jahre der Ruhe kehren ein, die sinkende Sonne über dem Reich macht uns schwermütig, unser Sohn erschießt sich in Mayerling und wir brechen zusammen; verharren neben einem Sarg, in dem auch die Zukunft begraben liegt, werden älter, älter, die Frau wird erstochen … uns bleibt nichts erspart, gar nichts … dann fallen die Schüsse von Sarajevo und wir entscheiden uns für einen Krieg: sehen Hunderte, Tausende, Hunderttausende fallen in einem Weltenbrand, den wir uns nie hätten erträumen können – –

– – Mein Kaiser weinte. Ganz leicht fühlte er sich an, als wäre ihm nach all den Jahren nicht mehr die Kraft für eine stoffliche Existenz beschieden. Die Erinnerungen des Kaisers waren schlimm, doch es lagen auch Ehre und Mut in ihnen, und daraus schöpfte ich meine Kraft. Am Ende war der alte Mann ganz verschwunden – hatte sich in meinen Armen einfach aufgelöst. Er war zu einem Teil meines Denkens geworden, und die Löcher sagten mir, dass ich ihn nicht wiedersehen würde. Es lag nun an mir, es zu beenden.

~♦~

(Zweiter Akt) …​


Du da oben! Du stehst verloren inmitten deiner Getreuen, ein goldener Schein in all der Dunkelheit. Im Burgtheater sind viele Offiziere – zu viele – und die schließen sich dir nun an. In ihren Paradeuniformen stehen sie auf den Rängen, ziehen ihre Säbel und folgen dir geradewegs ins Verderben. Ihr solltet euch sehen! Ein so ehrenvolles Bild mag dieses sterbende Reich schon lange nicht mehr erblickt haben!

GOLDENER SCHEIN (den Kaisersäbel erhoben) Mir nach! Ringen wir das Monster nieder! Für Kaiser Franz Joseph!

SOLDATEN Ihm nach! Bis ins Verderben und darüber hinaus!

*************************************************************************
Er stand noch immer auf der Bühne, seine Augen blitzen mich durch seine Visierschlitze an und er wisperte. Die Burg bot einen verstörenden Anblick: Inventar lag überall verstreut herum, Rauch schwängerte die Luft und die Bühne war eine einzige klaffende Wunde. In den ersten Reihen saßen Skelette, die das Schauspiel aus leeren Augenhöhlen verfolgten. Tote, die regungslos hinnahmen. Die Reihen dahinter sowie die Logen waren vielfach noch besetzt mit zerlumpten Gestalten, die ihre eingefallenen Gesichter vor dem Schrecken der Bühne zu verbergen suchten. Ich drehte mich um, erblickte Júlia in der letzten Reihe und schöpfte Mut aus ihrem schwachen Lächeln.
*************************************************************************​

Du wirst dich freuen. Denn ich habe eine Überraschung für dich, mein goldener Schein. Eine Neuentwicklung aus den Laboratorien Europas. Kennst du das Gefühl, wenn sich die Lunge zusammenkrampft – so sehr zusammenkrampft, dass man sie am liebsten erbrechen möchte? Und die Augen aufschreien während die Welt tränenverschleiert ins Nichts stürzt?
Nein? Dann ist es hohe Zeit …

DER RITTER … Denn die Zeit der Ehre ist vorbei.

Du siehst, wie aus der Rüstung des gütigen Ritters – du verzeihst sicher, dass ich mich so nenne – so etwas wie Dampf strömt. Schwaden, welche die Form von Flügeln annehmen; Schwaden, die langsam Richtung Soldaten ziehen und sie umschmeicheln …

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Ich kannte diesen Rauch von irgendwoher, denn eine irre Angst ergriff von mir Besitz. Den Grund für meine Furcht kannte ich indes nicht; und so sehr ich in meinen Erinnerungen auch forschte, ich konnte nichts finden. Steckten die Löcher vielleicht dahinter? Wussten sie, mit was ich es hier zu tun hatte?
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DER RITTER (Deckenelemente stürzen vom Himmel) Willkommen, meine Lieben! Ein Untergang ohne euch wäre wahrlich kein Amüsement!

Du siehst, wie die ersten Unglücklichen ins Gas laufen.

Umkippen. Kriechen. Husten. Sterben.

GOLDENER SCHEIN Zurück, sofort zurück!

SOLDATEN Rückzug! Nicht einatmen!

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Als ich die Sterbenden sah, da passierte es: Etwas fiel aus meinem Kopf. Es war seltsam nichtstofflich; ein Nichts, das mir kribbelnd über Stirn und Wange lief, meine Uniform erreichte, sie ausbleichte – (Kaiserblau wird Feldgrau) – und auf Gürtelhöhe ein klaffendes Loch ins Gefüge der Welt riss. Kalt war das Loch, und Schnee und Dunkelheit strömten aus ihm ins Theater. Als meine Hand die Grenzen des Loches überschritt, da verbrannte ich mich förmlich an der Kälte. Ich griff durch die Schwärze an den Gürtel und ertastete einen metallischen Behälter.

Erinnerungen fahren über meinen Arm direkt in den Kopf.

(kalter Schweiß, konservierte Todesangst)

Ich öffne den Behälter und setze meine Gasmaske auf. *************************************************************************​


DER RITTER Grandios, mein goldener Schein! Ein Griff vorwärts in die Realität. Ich finde diese … Lochvasallen überaus interessant.

Du siehst mich an, aber du verstehst mich nicht. Du hast mich noch nie verstanden. Dabei ist meine Sprache so einfach und zielgerichtet; kann gar nicht missverstanden werden.

GOLDENER SCHEIN (zu den Soldaten) Bleibt zurück … Ich versuche es alleine.

Und du kommst durch die Giftgasschwaden auf mich zu …
Forderst mich geradewegs zum Duell.

~♦~​

Du stehst mir gegenüber, ein schwaches Licht im Trümmerfeld. Deine Getreuen warten auf den Rängen, rufen nach dir, doch ihre Stimmen verlieren sich im Schlachtfeld. Du zitterst.

DER RITTER Wir brauchen keine Sekundanten, denn wir haben keine Regeln; wir brauchen keine Regeln, denn wir haben Stahl und Energie!

Schmerz legt sich über dein flackerndes Gesicht. Du ziehst den Säbel mit Schwung … und verharrst noch in der Bewegung. Dein Blick wandert in den Zuschauerraum. Deine Verlobte steht dort, ganz vorne, und sieht dich an. Sie ist für dich wie reine Hoffnung und selbst das Gas weicht vor ihr zurück.

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Júlia war mir gefolgt, stand mir bei. Sie war meine Konstante in all der Verwirrung und ihr glänzendes Haar spottete über Pulverstaub und ihr Lächeln vertrieb all meine Verzweiflung.
Es quietschte metallisch und der Krieg rutschte wieder in den Fokus meiner Aufmerksamkeit; seine Panzerhand griff zu seinem Schwert, zog es langsam aus der Scheide.
Etwas lief nicht rund.

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Du hörst mein Schwert knirschen. Irgendetwas stimmt nicht, das spürst du.
Dann kracht es und meine Waffe zerspringt in tausend Stücke.
Ein triumphierendes Lächeln huscht über dein Gesicht.

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Die Ehre war ihm zu fremd geworden.
Unglaublich, aber ...

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GOLDENER SCHEIN (leise) Ich habe das Duell gewonnen.

Du siehst, wie ich den Schwertgriff wütend auf die Erde schleudere. Duelle sollen verlorene Ehre wiederherstellen; man riskiert Verletzungen, man riskiert gar den Tod, um sie wiederzubekommen. Wie abartig! Wollte ich tatsächlich so werden wie früher? Ein verlogenes Konstrukt, das nicht mit der Realität einhergeht?
Erkennst du das auch, mein goldener Schein? Deine Welt hat etwas verklärt Märchenhaftes, entrückt von Wirklichkeit und Vernunft. Wolltest du mich tatsächlich umbringen … Oder wolltest du dich nur opfern, um mir meine Ehre wiederzugeben? mich zähmen? in einen silbernen Käfig zwingen?
Wir werden es nie erfahren, denn du hast das Duell gewonnen. Und es bedeutet nichts, weil es nie etwas zu verlieren oder zu gewinnen gab.

GOLDENER SCHEIN (zur Verlobten) Ich … ich habe gewonnen, Júlia!

DER RITTER So ist es, meine Lieben. Und jetzt bin ich dran.

Du siehst, wie ich mich dir nähere, die rechte Hand ausgestreckt, zum Zupacken bereit …

VERLOBTE Pass auf, Sebastian!

Die Fläche meiner Panzerhand donnert auf deine Stirn. Du schreist und schlägst mit dem Säbel auf mich ein. Hoffnungslos.
Die Sichtgläser deiner Gasmaske zerspringen, das Leinen zerbröselt unter meinem Eisengriff. Du wirst diesen Schutz nicht mehr brauchen, mein goldener Schein. Das Gas verflüchtigt sich nämlich. Deine Verlobte übt einen wahrlich ungünstigen Einfluss aus.
Du denkst jetzt an sie, in dieser deiner schwersten Stunde, denkst an eure erste Begegnung in der Oper. Dieses freche Mädel aus Böhmen, das rot wird, als du sie zum Tanzen aufforderst. Dieses Mädel, das Karl so schnippisch den Laufpass gegeben hat. Karls Blick verpasst dir einen schmerzhaften Stich und ist dennoch rasch vergessen, als ihr loslegt. Du tanzt viel besser als dein Freund, es hat sich ausgezahlt, dass du nie viel vom Soldatensein gehalten hast; ein wahrer Traumtänzer bist du, ihr wirbelt über die Tanzfläche, Farben verschwimmen vor goldenem Hintergrund, und sie himmelt dich an, ihre Augen glänzen so schön … ihr zwei dreht euch im Ballsaal der Erinnerung, und du hast längst vergessen, wo du dich wirklich befindest …

Und dann trifft etwas deinen Kopf.

Eine Kugel erwischt dich von hinten. Durchbohrt Schichten deines Denkens, deiner Vergangenheit, deiner Gefühle. Ein Projektil, das in seiner eigenen Zeit existiert und sich wenig um Kopfwelten kümmert. Myriaden Schichten werden durchbohrt, Myriaden von Löchern entstehen. Dann tritt die Kugel aus dem Schädel aus und bleibt im Eisen meiner Panzerhand stecken.

SOLDAT (auf den niederen Rängen) Den Leutnant hat’s erwischt, den Leutnant hat’s erwischt!

Dein Kopf steht mir nun offen und die Lochvasallen kommen, um mir zu dienen.

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Seine Hand war kalt wie Eis, seine Kraft und die Zielstrebigkeit, mit der er mir begegnete, beispiellos. Die geheimnisvollen Löcher, die mir so viel zugeflüstert hatten, sammelten sich jetzt hinter meiner Stirn – eine kribbelnde Masse – und wurden von ihm angezogen. Etwas Hartes hatte zuvor meinen Hinterkopf getroffen, aber der Schmerz war ausgeblieben. Ich spürte nur den unruhigen Druck der Löcher.
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GOLDENER SCHEIN Verdammt. Sie … brechen aus.

Und deine Stirn bricht unter der Last.

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Der Ritter ließ von mir ab und machte ein paar Schritte rückwärts. Löcher klebten an seiner Hand, und an diesen Löchern klebten weitere und bildeten so eine Art finstere Perlenkette, die aus meiner Stirn gezogen wurde. Sie tropften aus meinem Kopf wie kaltes Blut. Einmal im Freien angekommen, stoben die Löcher auseinander, säten Dunkelheit und Schnee. Überallhin ins Burgtheater flogen sie: lösten auf, was sie auflösen konnten, stifteten Finsternis, wo sie sie Finsternis stiften konnten und brachten Kälte, wo sie Kälte bringen konnten.
Dann kamen sie zu mir zurück.

(Und sorgen für grausame Klarheit.)

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Die Kugel hat euch aus dem Ballsaal geschleudert … und doch näher zusammengebracht. Júlia kümmert sich jetzt fürsorglich um dich.

VERLOBTE (zu den Soldaten) Steht nicht herum! Das Gas ist weg, so helft ihm doch!

Deine Getreuen folgen dem Befehl deiner Liebsten. Sie kommen zu Dutzenden von den Rängen, jeder stolz den Säbel erhoben, jeder zum Äußersten bereit. Mit einer Handbewegung schicke ich meine Vasallen zu ihnen. Sie fliegen rasch und hinterlassen schwarze Abdrücke in der Luft. Stürzen sich auf die Soldaten und werden mit Stahl empfangen. Sie sind nicht unbesiegbar; Löcher werden zerhackt, werden geteilt, werden weggedrängt.
Sie ziehen sich zurück, ein Schwarm der Dunkelheit – eine Nacht, in die sich eine rötliche Helle mischt. Ein Sonnenaufgang? Siehe! Da ist eine Welt hinter den Löchern! Nur was für eine?
Es ist ein Sonnenaufgang in einem Flusstal. Malerisch.
Du hörst das Bellen von Maschinengewehren. Es ist nichts zu sehen, du hörst es nur. Und jetzt werden die Löcher aktiv. Sie spüren rudelweise den Geräuschen nach, reißen dabei Bilder von Berglandschaften ins Burgtheater, arrangieren sich scheinbar willkürlich im Raum … bis sie die Schussbahnen erreicht haben und als Tore fungieren. Sie positionieren sich, mein Schein. Es blitzt und mehrere Gewehrsalven peitschen in deine verklärte Welt … treffen die Soldaten. Sie werden augenblicklich zerfetzt.

Ein paar Löcher kehren zu dir zurück, um dich im Wüten und Brausen einer neuen Zeit zum Erlöschen zu bringen.

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… (Blicke) … (in) … (eine) … (andere) … (Welt) … (schau) … (ihr) … (ins) …

… (Gesicht) …​


Die Löcher des Krieges flogen um mich herum, suchten nach Schwachstellen, und stürzten sich auf sie, sobald sie welche gefunden hatten. Mein Kaisersäbel schnitt die Morgenröte in Stücke, doch sie formierte sich immer neu. Fetzen von Schall und Bildern rauschten an mir vorbei und kamen mir dabei so bekannt vor, dass ich sie nur verneinen konnte.

Ich sehe die Realität und verneine sie im gleichen Augenblick. Ich sehe die Realität und verneine sie. Sehe und verneine. Verneine.
Nein!

Ein Nichts stürmte unaufhaltsam auf mich zu und explodierte in Koppelhöhe.
Ich sah

… (zwei Handgranaten) …​

am Gürtel.​
Ein weiteres zerplatzte an meiner Schläfe. Erinnerungen schwappten in meinen Schädel. Mühsam gehegte Gedankengebilde gingen unter. Schufen Raum für altvertraute Schrecken. Es war ein seltsames Gefühl, tot geglaubte Erinnerungen wiederauferstehen zu sehen.


… (zwei Handgranaten) …​

Ich warf einen Blick auf den Ritter. Er kommandierte die Löcher mit großen Gesten, schickte sie hierhin, schickte sie dahin. Das Burgtheater schwand unter dem Einfluss seiner Vasallen. Meine Erinnerungen schwanden mit.
Ich nahm eine Handgranate vom Koppel, entsicherte sie und warf sie Richtung Krieg.

Ein seltsames Gefühl von Gegenwärtigkeit ergreift von mir Besitz, als ich
die Stabgranate fliegen sehe. Wie ein allzu vertrautes Bild, das mir fremd geworden ist.
Sie trifft den Ritter am Kopf und explodiert.
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Du siehst, wie mir der Stahlhelm vom Rumpf gesprengt wird, schwarzes Metall fliegt in alle Richtungen. Ich falle.
Du triumphierst. Du hast mich erledigt. Endlose Sekunden tut sich nichts, nur Schnee bäumt sich auf.
Die Granate hat ein riesiges Loch ins Gefüge der Welt gesprengt, und durch diese Bresche schreiten jetzt zwei vermummte Gestalten. Dir bleibt beinahe das Herz stehen, als du sie erblickst.

GOLDENER SCHEIN Karl …!

VERLOBTE Sieh mal, Sebastian! Da ist Karl, er ist ja doch noch gekommen!

Du siehst, wie der Ruthene und dein Freund durch das Loch in deine Welt treten. Der Ruthene verändert sich, als er die Grenzen überschreitet: Er trägt jetzt einen Anzug. Karl verändert sich nicht. Er bleibt ein Gefangener von mir.

DER RUTHENE Entschuldigen Sie, Herr Leutnant, aber ich habe ihren Freund nicht aufhalten können. Er ist stark, so stark … Aber es ist keine gesunde Stärke, Herr Leutnant. Es ist das letzte Aufbäumen vorm Tod.

Du siehst, wie das Gewehr des Ruthenen ins Nichts übergeht, als hätte es ihm jemand weggeschnappt.

KARL Verdammte Scheiße, Sebastian! Du hättest mich fast erwischt!
(Er erschrickt.)
Mein Gott … erkennst du mich denn überhaupt? Was machst du denn überhaupt hier draußen? Diese Hundesöhne nehmen dich ins Visier, wenn du hier mit Handgranaten wirfst!

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Karl warf mir alles an den Kopf, was sich in ihm die vergangenen Wochen aufgestaut hatte. Ließ sich über mein verräterisches Wesen aus. Über meine Arroganz. Meine Ehrlosigkeit. Zwischendurch erschrak er förmlich über meine Ruchlosigkeit. Ich ließ es über mich ergehen wie ein reuiger Sünder. Ließ den Kopf hängen und Karl über mich urteilen.
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GOLDENER SCHEIN Karl, es tut mir so leid. Was ich … was ich die letzten Wochen getan habe, das … das war eines Freundes nicht wert.

VERLOBTE Karl, es tut mir auch leid. Kannst du uns verzeihen?

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Karl stand vor mir und ich wusste nicht, ob er mir mit Parade- oder Felduniform gegenüberstand. Mein Denken war seltsam zwiegespalten: Ich sah Karl als Opfer meiner rücksichtslosen Eroberungen; ich sah Karl als Gefangenen des Krieges. Wunden, die an ihm zehrten.
Welten vermischten sich. Wurden unscharf. Flackerten.

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KARL Sebastian, du solltest dich sehen! Du glühst, Blut strömt über deine Stirn. Keine Ahnung, wo du da reingelaufen bist. Komm, lass uns schleunigst verschwinden!

GOLDENER SCHEIN Was … was sagst du denn da?

Du siehst, wie Karl dir die Hand anbietet, dich zurückziehen will in die Welt, vor der du gerade geflohen bist. Und jetzt erinnerst du dich plötzlich mit aller Klarheit an diesen grausamen Ort, vor dem du dich so sicher wähntest.
Du erschrickst wie nie zuvor in deinem Leben.
Ein Schatten wirft sich auf euch; das ist ungewöhnlich, weil weder im Theater noch im Tal nennenswerte Lichtquellen existieren. Du bemerkst mich als Erster. Doch auch der Ruthene hat mich gesehen.

DER RUTHENE Herr Leutnant, der Moloch kommt! Er ist noch schrecklicher geworden! Er ist … ist … gewachsen.

Du siehst mit Erstaunen, wie ich den Ruthenen packe, hochhebe und in der Luft zerreiße. Fetzen des armen Mannes fliegen herum und lösen sich in Luft auf, noch bevor sie den Boden erreichen. Ukrainische Volksweisen schwingen geisterhaft durch die Luft, bereiten ihm einen Abschied. Ha! Wie amüsant! Umgibst du dich gerne mit lebendigem Nichts?
Tränen schießen dir in die Augen, als dein Freund erlischt. Karl hingegen scheint der Tod des Ruthenen nicht sonderlich nahe zu gehen. Er packt dich am rechten Arm und will dich fortschleifen. Ich packe den linken und halte dagegen.

GOLDENER SCHEIN Nein, Karl, ich muss dich von ihm befreien!

KARL Bist du vollkommen verrückt geworden? Wehr dich nicht so!

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So zerrten sie an mir, und keiner gewann die Oberhand. Irgendwo erklang eine Glocke.
Dunkel, schwer. Ein Läuten, welches das Schicksal der Welt zu beweinen schien. Keine Gasglocke aus dem Großen Krieg.
Nein, oh nein.
Es war die Pummerin, die große Josephinische Glocke. Die Pummerin, die so lange geschwiegen hatte.
Es war Totengeläut’ aus Wien.

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GOLDENER SCHEIN Sie tragen Kaiser Franz Joseph zu Grabe … und mit ihm die Reste der alten Zeit. Bald ist alles ausgelöscht, wenn ich es nicht zu verhindern weiß …

Du schaust mir zum ersten Mal ins Gesicht, seitdem du meinen Helm abgesprengt hast. Du erschrickst so sehr, dass du endlich die Kraft findest, dich von Karl loszureißen. Man kann den Krieg nicht mit Granaten bekämpfen, so wie man Feuer nicht mit Öl löschen kann. Das weißt du doch? Du greifst zur zweiten Handgranate, holst sie von Koppel, entsicherst sie …
… willst sie mir entgegen werfen. Ich schlage sie dir aus der Hand, die Granate fällt irgendwo hinter dir in den Schnee.
Dann spürst du, wie ich dich packe und in mein eisenbewehrtes Maul stopfe. Ich fresse dich in Windeseile mit den Beinen voran, Stahl zermahlt deinen Körper … bald wirst du ganz in mir aufgegangen sein.

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Ich warf noch einen letzten Blick auf Júlia …

(Schwärze drängte sich zwischen uns. Ich versuchte, mich wenigstes an ihr Gesicht zu erinnern, aber selbst meine Gedanken an sie wurden von den dunklen Gestaden verschluckt.)

… dann explodiert die ganze Welt mit Wucht und Flamme.
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DER RITTER Nichts bleibt.​

Du bist nicht mehr, mein goldener Schein. Du hast dich geflüchtet in eine Zeit, die zum Untergang verdammt gewesen ist. Im Rückblick glänzt doch alles schön. Und dann hast du gesehen, wie sie tatsächlich untergegangen ist – die Schüsse waren der Beginn! – Du wolltest dich dem Untergang entziehen, wolltest deine Welt gar retten, doch am Ende ist alles vergebens gewesen. Selbst die Hilfe deines Kaisers war umsonst. Da bin ich nun und brenne auch die letzten Andenken an dasFin de siècle aus deinem Kopf.

DER RITTER Nichts bleibt, nur Krieg.

… (Löcher verkünden) …

… (Ende) …


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Ich höre Musik. Fern … fern … mehr eine Ahnung als richtige Klänge. Gesang. Orgelspiel. Ein Requiem? Ein Requiem. Ich liege auf dem Boden, das Gesicht im Schnee und lasse mich von Chören trösten.
So muss der Himmel klingen, denke ich. Sie besingen mein Schicksal und es stimmt mich so traurig, dass ich für immer hier liegen bleiben möchte. Alle haben mich verlassen. Vom Fin de siècle ist mir nur die Erinnerung geblieben; eine Gewissheit, dass es einmal da war. Eine verbrannte, verkohlte Reminiszenz, die rasch zu Gedankenasche zerfallen wird. Und keine Urne zum Auffangen bereit.
– Oder bin ich die Urne?
Ich werde zu Eis gefrieren und die Zeiten überdauern. Die Chöre werden mich begleiten und es wird schön sein. Der Krieg wird weitergehen; noch Jahre, Jahrzehnte. Er wird immer schlimmer werden, immer mehr entarten. Irgendwann wird er sich auch vom Rest seiner Rüstung befreit haben, und dann wird er alles verschlingen. Und ich? Ich werde nur ein stummer Zeuge des Umstandes sein, dass es auch einmal anders gewesen ist. Dass es auch einmal das Schöne gegeben hat vor diesen Tagen voller Schwärze. Ein Toter im Gebirge, der nichts mehr erzählen kann. So liege ich da und über mir hängt der rötliche Himmel.
Er hat mich gefressen. Ich bin sein Vasall. Etwas Warmes läuft mir ins Auge.
Ein seltsamer Gedanke durchfährt mich: Der normalste Gedanke der Welt, und dennoch klingt er wie Hohn. Ich solle mir das Blut aus dem Auge wischen, fordert er frech. Es sei doch schließlich nur eine Platzwunde.
Bin ich dazu überhaupt in der Lage? Vielleicht hat mich die Handgranate zerfetzt, und ich liege da, ohne Arme, Beine, ein hilfloses Bündel?
Der Gedanke meint, dass dies unmöglich sei, schließlich würde ich keinen Schmerz verspüren.
Er war wohl nie im Krieg, der Frechdachs.
Ein weiterer Gedanke. Er erheitert mich ungemein.
Ich muss lachen. Lache in die Kälte hinein und mein Blut besudelt den Schnee. Langsam kehren meine Lebensgeister zurück, denn jetzt spüre ich den Schmerz. Pochend, ziehend, reißend. Überall. Ich brauche eine schiere Ewigkeit, bis ich meinen Arm befreit habe und meine Finger das Gesicht erreichen. Es stimmt, ich glühe. Bin krank.
Karl. Der Gedanke an meinen Freund gibt den entscheidenden Impuls zu Aufstehen. Wieder dauert es unendlich lange, bis ich auf die Beine komme; zittrig stehen bleibe. Ich klopfe mir den Schnee von der Uniform. Es ist noch alles dran. Was für ein unwahrscheinliches Glück.
Ich sehe etwas am Boden liegen, einen blutigen Fetzen. Ich gehe näher und bemerke, dass es eine Hand im Handschuh ist. Oh nein. Tränen steigen mir in die Augen. Ich nehme Karls Hand mit mir. Sie ist noch warm und zittert – oder zittre ich? Blut besudelt mir die Uniform und es ist gut.
Leb wohl, mein Freund.
Kugeln pfeifen mir um die Ohren und ich gehe weiter. Granaten schlagen unweit ein und ich spüre nicht einmal die Druckwelle. Die Schrapnelle machen einen weiten Bogen um mich; um mich, den Verfemten. Nicht einmal der Krieg will sich noch mit mir befassen. Von weit her höre ich Rufe wie aus einem Traum. Doch ich kann nicht sagen, ob sie der Gedankenasche entstammen oder von meinen Kameraden kommen. Trompetenklänge begleiten mich, Marschmusik geistert durch die untergegangene Welt.
Ich weiß, dass nicht mehr sterben kann. Nicht in diesem Krieg. Ich bin bereits gefallen und nun dazu verdammt, die Melancholie und Traurigkeit einer toten Epoche für immer mit mir herumzutragen. Alles Gute und Schöne, alles!, wofür es sich gelohnt hat zu Leben, ist verschwunden, untergegangen im gnadenlosen Stahlgewitter eines Weltkriegs. Leb wohl, mein Österreich. Leb wohl, mein lieber, guter Kaiser.
Er hat mich verlassen und mir ist kalt.

~♦~​

Jemand ruft nach mir. Ich drehe mich um und die Musik verstummt. Es ist Karl; da liegt er, zerschmettert und gebrochen und ruft nach mir.
»Karl!«, schreie ich überglücklich, stolpere zu ihm. Seine Hand entgleitet mir. Aus dem Augenwinkel sehe ich, wie sie in den Schnee fällt. Mein Verstand driftet in eine abgründige Leere, als mir Karls Zustand gegenwärtig wird. Es ist viel schlimmer, als ich es mir vorzustellen vermag … Himmel, nein, bitte nicht! Ich bestreite das Bild, verbanne es aus meinem Kopf … atme tief ein und aus, konzentriere mich auf sein Gesicht.
»Karl«, sage ich mit brechender Stimme. Weine bitterlich. »Karl, das alles hätte so nicht passieren dürfen. Aber der Krieg wollte es anders. Und ich … ich … konnte es nicht verhindern. Ich konnte es nicht. Karl, ich konnte es nicht!«
Karls Stimme ist jetzt ganz leise. Ich beuge mich vor, um ihn besser zu verstehen. Meine Ellenbogen sind voller Blut.
Was sagt er da? Ich verstehe kaum etwas.
»… verzeihe dir«, bringt er ganz schwach hervor. Und als hätte er mein Flehen erhört, fügt er das Wort »Traumtänzer« hinzu.
Und da passiert es. Ein goldener Glanz, ein Schimmer eines fernen Zeitalters erstrahlt in seinen Augen. Die rötlichen Umrandungen verblassen und sein Mund öffnet sich vor Erstauen.
»Meine Güte, Sebastian. Du … du hattest recht. Jetzt sehe ich den goldenen Glanz.«
So leise.
»Unmöglich. Der schwarze Moloch hat das Fin de siècle zu Asche verbrannt.«
»Manchmal kommen uns die Momente besuchen … sie sind ewig. Das hast du damals gesagt, Sebastian.«
Und jetzt verstehe ich. Der Krieg hat das Fin de siècle nicht ausgelöscht. Er hat nur meine Erinnerungen daran zu Asche verbrannt. Die Momente selbst sind unsterblich.
Der Glanz in Karls Augen entzündet die Asche in mir. Es entsteht ein schwächlicher, kränklicher Schein. Er glüht in meinem Herzen, doch er ist zu kümmerlich, um gegen den Krieg bestehen zu können.
»Du hast Júlia. Pass auf sie auf. Komm gut heim.« Der Glanz in seinen Augen driftet in eine andere, bessere Welt; dann stirbt er.
Júlia. Das Wort facht die Glut in mir an, sie wird stärker – flackert im Dunkeln, und dann, bevor sie im Kriegswind erlischt, fällt Licht auf mich. Ein fernes, warmes Licht. Der Schein eines Leuchtturms. Viel zu weit weg, um dem Moloch anheimzufallen. Júlia. Wie habe ich sie nur vergessen können?

Sie leuchtet aus der Dunkelheit heraus; ein inneres Licht beseelt ihre Gestalt, ihre Bewegungen. Als sie sich zu mir umdreht, da blitzen ihre Augen neckisch und ein Lächeln stiehlt sich in ihr Gesicht.

Das Feuer ihrer fernen Präsenz facht mich an, gibt mir Mut. Ich stehe auf und gehe ihr entgegen. Jetzt weiß ich, was ich machen werde. Ich werde alles überdauern; tapfer, mit Zuversicht. Ihre Liebe im Herzen tragend. Mein Blick ist nun frei.

Und sie ist das Licht, das mich dereinst nach Hause führen wird.

 

Kaiser Franz Joseph regierte Österreich von 1848 bis 1916. Diese 68 Jahre waren im Grunde genommen ein einziger Abstieg: Solferino, Königgrätz, Erster Weltkrieg … und das alles Hand in Hand mit persönlichen Tragödien und realem Machtverlust. Und dennoch hat man dem Kaiser alles verziehen. Einerseits, weil die Schicksalsschläge, die er zu tragen hatte, so groß waren, dass man Mitleid mit ihm hatte. Andererseits, weil die dunklen Jahre nach dem Ende der Donaumonarchie die Sehnsucht nach der alten Zeit weckten. Und dem greisen Kaiser, der sie zu verkörpern schien.

 

Hallo Blaine

die Stirnplatte wird weggesprengt und die Kugel bleibt in der Erde des Schützengrabens
stek-ken.

Schönheitsfehler für den Leser am Bildschirm, wenn eine Silbentrennung sich ihm im Text so zeigt. Im ausgedruckten Manuskript wäre es wohl richtig platziert.

Mehr kann ich da an kritischen Worten nicht einbringen. Die Geschichte faszinierte mich von Abschnitt zu Abschnitt in ihrer euphorischen Ausgestaltung. Sprachlich sehr schön abgefasst. Inhaltlich fühlte ich mit dem Sebastian, durfte seine Aussetzer und seine ihm eigene Wahrnehmungen miterleben, ein wahres Erlebnis.

Diese Zeit ist da, um ihrer erinnert zu werden.

Wie vermöchte ich es besser auszudrücken, als es Sebastian in seiner Gedankenwelt tat.

Traumtänzer, würde der alte Karl jetzt wohl sagen.

Aber mir war es ein besonderes Lesevergnügen.

Schöne Grüsse

Anakreon

 

Hallo Anakreon!

Es ist eine große Erleichterung für mich, zu sehen, dass die Geschichte offenbar so funktioniert, wie ich mir das vorgestellt habe. Ist ja nichts Selbstverständliches, weil man den eigenen Stoff anders wahrnimmt ...
Dass du dich so gut in Sebastian einfühlen konntest, finde ich sehr schön. Die Geschichte steht und fällt ja mit ihm. Freut mich jedenfalls riesig, dass sie dir gefallen hat!

die Stirnplatte wird weggesprengt und die Kugel bleibt in der Erde des Schützengrabens
stek-ken.
Schönheitsfehler für den Leser am Bildschirm, wenn eine Silbentrennung sich ihm im Text so zeigt. Im ausgedruckten Manuskript wäre es wohl richtig platziert.
War beabsichtigt, ist aber trotzdem ein Schönheitsfehler, da gebe ich dir recht. Während die Kugel fliegt, macht der Satz keine Pause und am Ende ihres Fluges soll er, also der Satz selbst, stecken bleiben. Aber das funktioniert anscheinend nicht, weil man stolpert, anstatt mit vollem Karacho in die Wand zu donnern.

Hm ...

Vielleicht funktioniert es mit einem Medium Shade besser?

und die Kugel bleibt in der Erde des Schützengrabens steck

Und wenn das Medium Shade nur das "n" ersetzt, wird es lesbarer:

und die Kugel bleibt in der Erde des Schützengrabens stecke

Na ja. Hab den Stolperstein erst einmal rausgenommen und denke darüber nach.


Danke fürs Lesen und Kritisieren!

Viele Grüße
Blaine

 
Zuletzt bearbeitet:

Stimme von oben
Der Sturm gelang. Die Nacht war wild.
Zerstört ist Gottes Ebenbild!
Großes Schweigen
Die Stimme Gottes
Ich habe es nicht gewollt.​

So,

lieber Blaine,

schließen Karl Kraus’ monumentalen letzten Tage der Menschheit, die sich aus fiktiven, halbdokumentarischen und dokumentarischen Quellen speisen. Nahezu hundert Jahre später versuchstu ähnliches für die Kurzgeschichte zu schaffen, deren 33 Seiten Manuskript, einzeilig unter 12 pt. TNR (Cicero) eine gehörige Portion Sitzfleisch und Kondition nebst Konzentrationsfähigkeit erfordern.

Surrealistisches steht da neben Naturalistischem, Fantasy neben SF, Dialoge bis hin zum Dramaturgischen, sinnig genug auf der Burg,
und Reduktion zum Monolog,
was mich auf eine Äußerung an anderer Stelle stößt:

Ich lese sehr gerne innere Monologe, weil dort die Distanz zum Protagonisten auf Null schrumpft und die dadurch entstehende Intensität etwas sehr Reizvolles darstellt.[Komm. zu Ymms Plan]

Was von den Schubladen fehlt – oder mir beim ersten Lesen, das bei mir fast immer der Befriedigung der Kleinkrämerseele dient, da ihr immer nach Futter ruft, nicht aufgefallen ist: wo bleibt der Kriegsberichtbestatter? Sei’s drum!

Du schaufelst uns drei Generationen nach den elf (!) Schlachten am Isonzo ein Stückerl von dem aufdringlich süßlichen fin de siècle Tortl aufs Tablett – ein Jahrhundertende, welches in seinem elenden Siechtum über einen heißen zweiten Dreißigjährigen (1914 – 1945) mit einem lang währenden Kalten Krieg mühselig und unter größten Opfern endlich ausklang.

Das muss einem nicht zur Tragödie werden und Witz blitzt tatsächlich auf

»Habe ich dir schon von der Theorie der Momente erzählt?«, fragte ich Karl.
Der legte den Kopf schief. »Nein. Hört sich aber interessant an.«
»Das ist es auch. Pass auf: Jeder denkwürdige Moment existiert nicht nur in einer bestimmten Zeitspanne, sondern währt bis in alle Ewigkeit. Jede denkwürdige Sekunde der Welt kann also aufgesucht und wieder und wieder erlebt werden.«
Karl steckte sich zitternd eine neue Kaiserliche an. »Seltsame Theorie. Und wie soll das funktionieren mit dem Aufsuchen von Momenten?«
»Man muss sich von seiner Körperlichkeit befreien. Man muss sterben.«
Karl grinste. »Großartig. Ich sag's dir dann, wenn es soweit ist.« …
Wobei Vergleichbares bei ’t Hart sich nicht näherungsweise so witzig findet: „Wie eigenartig, dass man in einem solchen sonnendurchglühten Augenblick denkt, das ganze Leben liege noch vor einem, während sich später herausstellt, dass ein solcher Moment das wahre Leben ist. Die Hoffnung hat dann noch einen langen Weg zu gehen; von Beruhigung kann nicht die Rede sein, alles atmet Erwartung. Ich wollte, ich stünde wieder dort, an einem solchen Sommertag im Februar, während sich die Gardinen blähten und mir ins Gesicht wehten.
Solange sich das Weltall ausdehnt, bleibt jeder Augenblick in einem Menschenleben bestehen, denn irgendein Fleckchen im Weltall ist genauso viele Lichtjahre von diesem Augenblick entfernt. Wenn du an jenem Fleckchen wärst und durch ein Fernglas zur Erde schauen könntest, würdest du dich selbst dort stehen sehen - am offenen Fenster, in der Sonne, für immer an den einen Punkt der Zeit festgenagelt, der niemals verlorengehen wird.“ Aus: Maarten ’t Hart: Het woeden der gehele wereld, 1993/übers. V. Marianne Holberg: Das Wüten der ganzen Welt, 1997, winz’ge Korrekturen vorgenommen von ’t Windje.

Freilich bezweifel ich, dass Fantasy, Comic oder SF (ein Beispiel gäbe der imaginäre Ritter wie hier

Mir ist es, als würde der grausame Ritter mit den Lichtbogenaugen gleich hinter der nächsten Anhöhe hervorlugen
), am Isonzo auch nur die winzigste Rolle spielten, doch sicher bin ich mir, dass Pronomen in der persönlichen Anrede (und sei’s schriftlich) mit Großbuchstaben zu der Zeit begannen, selbst wenn man befreundet und einander vertraut war!
»Wir haben uns während deiner Abwesenheit tief in den Berg eingegraben«, sagt Karl.

Und ob das engl. „Tunnel“ sich schon durchgesetzt hatte (das Denglishe fand sich noch auf der feindlichen Seite, der Entente), bezweifel ich ebenso, wo doch selbst heut noch der Duden für den österr. Raum das Teutsche Tunell ausweist.
Die wichtigsten Stellungen erreicht man jetzt durch Tunnels. /// Tunneleingang
Und weitere Varianten

Bei dem Umfang bleibt Flüchtigkeit nicht aus;

Unwichtige Sachen, denen man vorher keine keine Beachtung geschenkt hat, bekommen plötzlich Gewicht, …
&
Doch auf die Zukunft zu setzen ist zwecklos; man muss sein sein Heil in der Vergangenheit finden.
Die Chöre wird mich begleiten und es wird schön sein.
Ich sag ma’ weiter nix …
…, und die Saison war im vollem Gange.
…in vollem …

Ganz Wien wiegte im Walzertakt, …
Dieses wiegen hat nix mit Gewichten zu tu, und ist die verbalisierte Wiege, die wiederum vom bewegen herrührt und das ist, wie dann dieses wiegen auch, immer ein sich bewegen. Wien wiegte sich …, sonst hieße es wahrscheinlich Wien wog im Walzertakt …

»Wir sind Offiziere Seiner Apostolischen Majestät Kaiser Franz Joseph dem Ersten …
des Ersten und - was SM sicher schon ahnte - der Letzte ...
Unsere Plätze waren im Paterre …
par-


Wir harren in ängstlicher Erwartung auf einen Feind, der hoffentlich nie kommen möge.
Natürlich kann man sich wünschen, dass etwas nicht kommen mag (= kann). Aber das könnten nur andere verhindern. Insofern erscheint mir mögen nicht richtig gewählt: Der Icherzähler wünschte, dass der Feind nicht kommen werde.

Ich hole tief Luft und breche meiner Verzweiflung Bahn.
Da bin ich mir selbst nicht sicher, aber ich muss einfach drauf hinweisen, dass das Luftholen in diesem Fall sicherlich bewusst erfolgt, nicht jedoch die Verzweiflung. Die steigt halt in einem so auf, ohne großes Zutun. Wäre also das erste ein aktives, so letzteres ein passives geschehn: Es widerfährt einem – ob er will oder nicht, dass ich zu der Formulierung neige
Ich hole tief Luft und meine Verzweiflung bricht sich Bahn.

Und dann macht es einen Knall.
Unglückliche, sogar kindische Formulierung. Denn was macht den Knall? Der Schuss aus der Einleitung eine plötzliche stoßweise Dichteschwankung der Luft, die durch Schlag (Peitsche), Explosion u. a. hervorgerufen wird.

Die Schrappnelle …
Soll sicherlich keine Wortschöpfung (aus dem Schrapnell + der Schnelle) und selbst wenn: ein p wär genug, der namengebende Offizier schrieb sich nur mit einem p.

So viel oder wenig für heute!

Doch komm ich noch mal auf Karl Kraus zurück, der es immer schon gewusst hat, dass man leicht Agamemnon mit Angenommen und den Kyffhäuser mit Kaufhäusern verwechseln werde. Und da Jupps Franz nun auch noch Kollege des Hauke Haien geworden ist im Widergang, kann ich mir nach dem großen Karl, dem Ketzer Friedrich II., der durch seinen Großvater, den Rotbart ersetzt wurde, das bald ein Franzl mit seinem Sissi im Kyffhäuser ein Büro einrichtet.

Jetzt ist aber genug!

Gruß

Friedel

 

Hallo Friedel!

Klasse, dass du gleich mit einem Zitat aus "Die letzten Tagen der Menschheit" daherkommst. Überrascht mich zwar nicht wirklich, aber ich finde es trotzdem toll. :)

Nahezu hundert Jahre später versuchstu ähnliches für die Kurzgeschichte zu schaffen, deren 33 Seiten Manuskript, einzeilig unter 12 pt. TNR (Cicero) eine gehörige Portion Sitzfleisch und Kondition nebst Konzentrationsfähigkeit erfordern.
Die Geschichte ist sicher nicht einfach zu lesen, da hast du recht. Aber sie würde gehörig verlieren, wenn ich ihr etwas von ihrer Komplexität nehmen würde. Denke ich zumindest.

Surrealistisches steht da neben Naturalistischem, Fantasy neben SF, Dialoge bis hin zum Dramaturgischen, sinnig genug auf der Burg,
und Reduktion zum Monolog
Ich habe eine Menge eingebaut, das stimmt schon ...
Ursprünglich sollte die Geschichte ganz einfach und kurz werden, aber im Endeffekt baue ich immer mehr ein, als ich ursprünglich vorhatte. Ob das gut oder schlecht ist, dürfen die Kritiker entscheiden.

Was von den Schubladen fehlt – oder mir beim ersten Lesen, das bei mir fast immer der Befriedigung der Kleinkrämerseele dient, da ihr immer nach Futter ruft, nicht aufgefallen ist: wo bleibt der Kriegsberichtbestatter?
Du spielst auf Alice Schalek an, oder? So etwas würde die Geschichte nur näher zu den "Letzten Tagen" rücken. Dieses Monumentalwerk ist zwar wichtig, aber diese Geschichte baut nur zu einem kleinen Teil darauf auf (eigentlich nur der Anfang und der Mittelteil des Dramas). Ich habe auch Verweise und Anspielungen auf "Leutnant Gustl", "Radetzkymarsch" und "Im Westen nichts Neues" eingebaut. Die wollen auch bedient werden. ;)

Du schaufelst uns drei Generationen nach den elf (!) Schlachten am Isonzo ein Stückerl von dem aufdringlich süßlichen fin de siècle Tortl aufs Tablett
Ob ich das Ganze insgesamt etwas weniger süßlich und tragisch hätte machen sollen, weiß ich nicht. Es geht ja darum, sich von der Vergangenheit zu befreien und sein Leben auf weniger verlogene Dinge auszurichten.

doch sicher bin ich mir, dass Pronomen in der persönlichen Anrede (und sei’s schriftlich) mit Großbuchstaben zu der Zeit begannen, selbst wenn man befreundet und einander vertraut war!
Hm? 1916 galt ja die Rechtschreibreform von 1901. Demnach wurden alle nichtförmlichen Anreden (du, dir) kleingeschrieben, außer in Briefen. Aber selbst wenn: Ich schreibe ja nach der "endgültigen" Rechtschreibreform von 2006. ;)

Und ob das engl. „Tunnel“ sich schon durchgesetzt hatte (das Denglishe fand sich noch auf der feindlichen Seite, der Entente), bezweifel ich ebenso, wo doch selbst heut noch der Duden für den österr. Raum das Teutsche Tunell ausweist.
Danke für den Hinweis! Ich habe es mit "Tunell" probiert, aber es sah so seltsam aus, dass ich es gleich wieder rausgeworfen habe. Jetzt steht dort "Stollen". Das beschreibt diese engen Felsgänge auch besser.

Den Rest der Liste habe ich so übernommen, vielen Dank dafür!

Viele Grüße
Blaine

 

Klasse, dass du gleich mit einem Zitat aus "Die letzten Tagen der Menschheit" daherkommst. Überrascht mich zwar nicht wirklich, aber ich finde es trotzdem toll,
was ich auch nicht anders erw ..., ach was, nix zu danken,

lieber Blaine,

es wäre traurig, wenn die kleine Fleißarbeit nicht mit angemessenem Zuspruch / Interesse belohnt würde - sei die Geschichte nun so schwierig wie sie wolle. Komplexe Tatbestände verlieren in jedem Fall bei Vereinfachung. Was schon für den Umgang mit Sprache (oder ihrer Umgehung durch die Umgangssprache) gilt, muss erst recht für geschichtliche Ereignisse gelten. Dass Du dabei nicht alles bedienen kannst (schon damals spielten Banken eine bedeutsame Rolle, was dem geschichtlich unbefleckten Durchnittsmenschen heute durchaus nicht unbekannt sein sollte).

Du spielst auf Alice Schalek an, oder?
Ich hab's mit Alicen ... Aber's stimmt schon, Du kämst der Arbeitsweise Kraus näher (der ja ganze Passagen wörtlich übernommen hat und sogleich die entsprechende Person ins Stück einbaute; kleine Überraschung am Ende dieser kleinen Ausführung ...) Die andern Querverweise / Anspielungen beginnen ja schon mit dem einleitenden Zitat.

Ob ich das Ganze insgesamt etwas weniger süßlich und tragisch hätte machen sollen, weiß ich nicht. Es geht ja darum, sich von der Vergangenheit zu befreien und sein Leben auf weniger verlogene Dinge auszurichten.
Korrekt, doch will ich gleich aufs erste zuckersüße Stückerl kommen. Bissken dauert's aber ...

Ich schreibe ja nach der "endgültigen" Rechtschreibreform von 2006.
Ist in Ordnung. Übrigens ein Stilmittel bei Gottfried Keller, der selbst seine historischen Novellen in aktuelle Sprachregeln einkleidete. Der war auch froh, als das th- (bis auf'n Thron) abgeschafft wurde. Man kann das Gelächter im Schriftverkehr mit Theodor Storm nachempfinden ...

Ich habe es mit "Tunell" probiert,
und sieht nicht nur befremdlich aus, sondern wäre auch noch anders als überlicherweise zu betonen. Stollen ist 'ne gute Lösung.

Nun zu den Ankündigungen. Das verzuckerte Stückerl Tort(ur) findet sich zu Anfang:

Langsam verlässt die Kugel den Lauf des italienischen Gewehrs; sie ist schneller als der Schall, schneller, als das menschliche Auge erfassen kann, und doch verweilt sie in ihrer eigenen Zeit, einer Zeit, in der alles stillsteht und Grabesruhe herrscht; so fliegt sie gemächlich über den Isonzo, ein blau erstarrtes Band, Baumruinen säumen tote Ufer, fast meint man, sie würde niemals den Ort ihrer Bestimmung erreichen … doch dann, endlich!, nach einer scheinbaren Ewigkeit, ist sie an ihrem Ziel angelangt – ein Mann mit dem Rücken zu ihr, vor undenklichen Zeiten aufgestanden –; das Metall seines Helms macht ihr bereitwillig Platz, der Hinterkopf wird eingedrückt, im Hirn erklingen ferne Walzerklänge, Ballsaal einer sterbenden Epoche, die Stirnplatte wird weggesprengt und die Kugel bleibt in der Erde des Schützengrabens stecken.

Nehmen wir dden einleitenden Satz,

lieber Blaine,

veranschaulicht er doch eine Hypothese zur Zeit, die große literarische Vorbilder hat (da soll der glückliche Augenblick verweilen, der Zeitpunkt also ewig oder doch ziemlich lange währen, bis hin zur Behauptung, dass die Zeit nicht ginge – und in der Tat: ohne Raum und ohne Bewegung / Veränderung , wo alles still ist & steht ist keine Zeit).
Grundsätzlich ist es ein guter Einstieg, das Tempo der Kugel, die den Gewehrlauf verlässt, zu relativieren

Langsam verlässt die Kugel den Lauf des… Gewehrs …,
mag sie noch so schnell wirken gegenüber dem Wachstum unseres Haars und unserer Wahrnehmungsfähigkeit, ein Mehrfaches schneller sein als der Schall, -
schon eine stinknormale Erdbebenwelle wie jüngst in Japan liefe einem Objekt von 870 m/s davon und kann doch auch nicht der Erde entkommen (Erde um die Sonne ca. 30 km/s) und die hinwiederum keinem Licht. Es sieht fast so aus, als gäbe es immer etwas, das schneller wäre als ein anderes.

Doch mit dem gerade verschwiegenen Attribut fängt das Elend der Konstruktion an: was wäre denn ein

italienisches Gewehr?
Wär’s in Italien hergestellt? Fänd’s sich in der Hand eines Itakers? Oder wäre es doch eher ein Seitenhieb auf die Kriegstauglichkeit der Italiener?, mit spöttischer, wenn auch uralter Frage nach der Kriegsflagge Italiens?, - für jene, die's nicht wissen, mit dem weißen Laken als Antwort.
Es ist wurscht, aus welchem und wessen Gewehrlauf eine Kugel komme – denn wie behauptete Wolf Biermann immer schon „Soldaten sind sich alle gleich / lebendig und als Leich“ – wobei die Heilsarmee weniger mit Waffengewalt als mit Gesang Siege erringen und damit Niederlagen verteilen will.

Ich meine darum: das Attribut wäre unter vielem Klugen eher entbehrlich.

…, und doch verweilt sie in ihrer eigenen Zeit, …
wie alles seine Zeit hat, freilich ist die nächste Aussage eher zweifelhaft
… einer Zeit, in der alles stillsteht und Grabesruhe herrscht …
was für die Kugel gelten mag – sie ist eh ein totes Ding, nimmt nix wahr: sieht/hört/schmeckt/riecht/fühlt nix –
was schon für den Schützen und ebenso für den Empfänger dieser trefflichen Botschaft nicht mehr gilt.
Zudem gaukelt uns der Eingangsabschnitt vor, es stünde im Ermessen der Kugel, den Lauf zu verlassen oder drin zu bleiben. Erst durch auf sie wirkende Kräfte kann sie den Lauf verlassen und kometenartig ihre kleine Bahn ziehn, zur Freude mathematisch begabter Kretins, die ihre Flugbahn berechnen und auf die Weise eine kriegsdienliche Mathematik schaffen.

Nicht aktiv, sondern passiv wäre hier und allemal für eine Kugel / ein Geschoss angesagt.

Kurz: Könnte man einer Kugel ein Eigenleben zusprechen? Ich denke nicht.
So gerät m. E. die Einleitung zum Kriegskitsch - dem wie selbstverständlich der Horror der letzten Zeilen mit der Nahtoderfahrung korrespondiert. Kitsch meets horror. Hat aber dann doch seinen besonderen Reiz, dass mir da nix bessres einfällt.

So viel oder wenig für heute (bin schon'n bisserl Fusselig). Aber noch ein "Gebet" vom Papst Bendikt:

„Im heiligen Namen Gottes, unseres himmlischen Vaters und Herrn, um des gesegneten Blutes Jesu willen, welches der Preis der menschlichen Erlösung gewesen, beschwören wir Euch, die Ihr von der göttlichen Vorsehung zur Regierung der kriegführenden Nationen bestellt seid, diesem fürchterlichen Morden, das nunmehr seit einem Jahre Europa entehrt, endlich ein Ziel zu setzen. Es ist Bruderblut, das zu Lande und zur See vergossen wird. Die schönsten Gegenden Europas, dieses Gartens der Welt, sind mit Leichen und Ruinen besät. Ihr tragt vor Gott und den Menschen die entsetzliche Verantwortung für Frieden und Krieg. Höret auf unsere Bitte, auf die väterliche Stimme des Vikars des ewigen und höchsten Richters, dem Ihr werdet Rechenschaft ablegen müssen. Die Fülle der Reichtümer, mit denen Gott der Schöpfer die Euch unterstellten Länder ausgestattet hat, erlauben Euch gewiß die Fortsetzung des Kampfes. Aber um was für einen Preis? Darauf mögen die Tausende junger Menschenleben antworten, die alltäglich auf den Schlachtfeldern erlöschen --“
Nach zeitgenössischen Dokumenten in Karl Kraus’ letzten Tage der Menschheit, I / 27, aufgearbeitet. Im Vatikan residierte Benedikt XV.

Da setzen wir noch aus der k. u. k.-Monarchie Art. 1 der Kaiserlichen Verfassung vom 21. Dezember 1867 bei:
„Der Kaiser ist geheiligt, unverletzlich und unverantwortlich.“

So war's wohl. Immerhin ist ja Franzens Nachfolger inzwischen seliggesprochen.

Gruß

Friedel

 
Zuletzt bearbeitet:

Hallo Friedel!

Doch mit dem gerade verschwiegenen Attribut fängt das Elend der Konstruktion an: was wäre denn ein
italienisches Gewehr?
Wär’s in Italien hergestellt? Fänd’s sich in der Hand eines Itakers? Oder wäre es doch eher ein Seitenhieb auf die Kriegstauglichkeit der Italiener?, mit spöttischer, wenn auch uralter Frage nach der Kriegsflagge Italiens?, - für jene, die's nicht wissen, mit dem weißen Laken als Antwort.
Es ist wurscht, aus welchem und wessen Gewehrlauf eine Kugel komme – denn wie behauptete Wolf Biermann immer schon „Soldaten sind sich alle gleich / lebendig und als Leich“ – wobei die Heilsarmee weniger mit Waffengewalt als mit Gesang Siege erringen und damit Niederlagen verteilen will.
Hat, denke ich, etwas mit Satzrhythmus und -länge zu tun. Ohne diesen Zusatz ist er zu kurz. An dieser Stelle könnte genauso gut ein anderes Wort stehen. (Fragt sich nur, welches.)
Ich bin aber mittlerweile so betriebsblind, dass man mir in diesem Fall jedwede Kompetenz absprechen kann. Ich habe den Satz so oft gelesen, dass mir jede Änderung falsch vorkommt. Brauche also erst einmal Abstand.


…, und doch verweilt sie in ihrer eigenen Zeit, …
wie alles seine Zeit hat, freilich ist die nächste Aussage eher zweifelhaft
… einer Zeit, in der alles stillsteht und Grabesruhe herrscht …
was für die Kugel gelten mag – sie ist eh ein totes Ding, nimmt nix wahr: sieht/hört/schmeckt/riecht/fühlt nix
Ich denke, mit der Kugel verhält es sich so, dass nicht sie es ist, die fühlt, sieht, vermutet etc., sondern der Erzähler in der dritten Person. Man kann jetzt natürlich "inkonsequent!" schreien, weil die Geschichte ja schon einen Ich-Erzähler hat, aber der Flug der Kugel findet statt, bevor dieser überhaupt auftritt. Später nehme ich diese Idee wieder auf, indem ich den Flug der Kugel durch einen Du-Erzähler schildern lasse, der wieder außerhalb des gesamten Vorgangs steht.
Ich finde es gar nicht so schlecht, dass der Eindruck entsteht, die Kugel habe eine Seele. In dieser Geschichte führen selbst simple Löcher ein Eigenleben (wenn auch nur in der Gedankenwelt des Protagonisten).

Nicht aktiv, sondern passiv wäre hier und allemal für eine Kugel / ein Geschoss angesagt.

Passiv... Also so:
Der Lauf des Gewehrs wird langsam von der Kugel verlassen.
So interessant ich den Gedanken auch finde, aber das ist ein Fall von "Theorie hui, Praxis pfui". Als Konzept wirkt es wunderbar, aber der fertige Satz ist zum Wegschauen. Am Schluss hätte ich ein Konstrukt, das zwar über jeden Einwand erhaben ist, aber leer und seelenlos daherkommt. Das kann nicht mein Ziel sein.
(Apropos Passiv: Hier gibt es diese Passiv-Geschichte vom diesjährigen Bachmannpreis. Interessantes Konzept, aber alles andere als erbauend zu lesen.)

So gerät m. E. die Einleitung zum Kriegskitsch - dem wie selbstverständlich der Horror der letzten Zeilen mit der Nahtoderfahrung korrespondiert. Kitsch meets horror. Hat aber dann doch seinen besonderen Reiz, dass mir da nix bessres einfällt.
Dann darf ich es so lassen? :D

Da setzen wir noch aus der k. u. k.-Monarchie Art. 1 der Kaiserlichen Verfassung vom 21. Dezember 1867 bei:
„Der Kaiser ist geheiligt, unverletzlich und unverantwortlich.“
Köstlich!

Danke für deine Anregungen!

Viele Grüße
Blaine

 

Es ist wurscht, aus welchem und wessen Gewehrlauf eine Kugel komme – denn wie behauptete Wolf Biermann immer schon „Soldaten sind sich alle gleich / lebendig und als Leich“ – wobei die Heilsarmee weniger mit Waffengewalt als mit Gesang Siege erringen und damit Niederlagen verteilen will.
Hat, denke ich, etwas mit Satzrhythmus und -länge zu tun. Ohne diesen Zusatz ist er zu kurz. An dieser Stelle könnte genauso gut ein anderes Wort stehen. (Fragt sich nur, welches.),
und mit'nem Budweiser in der Hand fällt mir im Augenblick auch nix ein,

lieber Blaine,

aber ich denk mit drüber nach ... wie auch zur Diversifikation des Erzählers (was mir auf'm ersten Blick keine Ablehnung bei mir auslöst).

Dann darf ich es so lassen?
seh ich dann mit gebührender Ironie & rhetorisch (hätt ich beinah mit th geschrieben).

Zitat:
Da setzen wir noch aus der k. u. k.-Monarchie Art. 1 der Kaiserlichen Verfassung vom 21. Dezember 1867 bei:
„Der Kaiser ist geheiligt, unverletzlich und unverantwortlich.“
Köstlich!
Fand ich auch. Sollt' der Österreicher selbst in seinen höchsten Etagen zur Satire neigen? Ach wo, da gab's noch'n Adolf, der alles andere als ein echter Nassauer war ...

Gruß

Friedel

 

Hallo Blaine,

zwote + dritte Gedanken zum ersten Absatz nebst einer Randbemerkung zum Gaskrieg:

Noch unterm Bud-Einfluss von vorgestern:
Ein nüchterner Ansatz wäre die Schilderung duch einen Waffenkonstrukteur (meinetwegen namens Mauser, ein Name, der sich anböte und zudem ein schön mehrdeutiger Name wäre).
An sich sind Techniker und Ingenieure, die ich kenn, eher nüchterne und noch mundfaulere Menschen als ich, aber poetische / fantastische Adern lassen sich auch bei ihnen nicht ausschließen, insbesondere wenn sich zum technischen Können (Bau elektrischer Gitarren nebst Zugehör) die Fähigkeit gesellt, das Instrumentarium selbst nutzen zu können.
Warum sollte nicht das Loblied auf die Ingenieurkünste und das Zusammenspiel von treibender Kraft, geradlinigem Lauf, wunderschöner ballistischer Kurve und Präzision gesungen werden?, wie schon kurz im ersten Kommentar angerissen, was den Knall denn „mache“ –

aber plötzlich, heute, – dritter Gedanke - kommt mir der „Sprachlehrer“ Kraus unter, der da behauptet, „der Konjunktiv imperfecti“ sei „das Prunkstück der Bildung“ [zitiert nach Heft 751 – 756 der Fackel vom Februar 1927, S. 41, neuveröffentlicht unter Austrian Academy Corpus: AAC-FACKEL / Online Version: »Die Fackel. Herausgeber: Karl Kraus, Wien 1899-1936« / AAC Digital Edition No 1], dass dem idyllisch anmutendem Konjuntiv II der Indikativ verstörend gegenübergestellt werden könnte (puh, da wird manchem der Angstschweiß ausbrechen) und die abschließende würde-Konstruktion bliebe unangetastet:

Langsam [verließe] die Kugel den Lauf des[mausigen*= frech / vorlauten] Gewehrs; [sei / wäre sie auch] schneller als der Schall, schneller, als das menschliche Auge erfassen kann, […] verweilt[e] sie [doch]in ihrer eigenen Zeit, einer Zeit, in der alles still[stünde] und Grabesruhe herrscht[e]; so[flöge] sie gemächlich über den Isonzo, ein[em] blau erstarrte[n] Band, Baumruinen säumen tote Ufer, fast meint man, sie würde niemals den Ort ihrer Bestimmung erreichen … doch dann, endlich!, nach einer [winzigen] Ewigkeit, ist sie an ihrem Ziel angelangt – ein Mann mit dem Rücken zu ihr, vor undenklichen Zeiten aufgestanden –; das Metall seines Helms macht[e] ihr bereitwillig [besser alternativ: widerstandslos, denn dass der Helm seine Funktion nicht erfüllen kann wird er nicht sonderlich bereitwillig zugeben] Platz, der Hinterkopf wird eingedrückt, im Hirn erkl[ä]ngen ferne Walzerklänge, Ballsaal einer sterbenden Epoche, die Stirnplatte wird weggesprengt und die Kugel bleibt in der Erde des Schützengrabens stecken.

Abschließend ein kurzer Hinweis zum Gaskrieg: es waren deutsche Truppen, die als erste an der Westfront das damals schon nach internationalem Recht – dem auch „an sich“ das Kaiserreich folgte – geächtete Gas verwendeten. Treibende Kraft in der Entwicklung von Chlor und Phosgen zum Kampfgas war ein späterer Nobelpreisträger, dessen Name noch heute im Haber-Bosch-Verfahren bei der Ammoniak-Synthese verewigt wird: Fritz Haber, was einen skeptischen Blick und Schatten auf die Moral unserer größten Wissenschaftler wirft.
Erst in der Battaglia di Caporetto, der zwölften Schlacht am Issonzo im Oktober 1917 kam mit den deutschen Truppen der Gaskrieg (i. d. R. als Phosgen) an den Isonzo und damit die Niederlage der Italiener – die kein Gas verwendeten.

Gruß

Friedel

 

Blaine,

ein riesen Kompliment für dieses wuchtig starke Stück.
Wuchtig, dieses Wort geistert die ganze Zeit in meinem Kopf rum, wenn ich an deine Geschichte denke. Ich habe die Geschichte in mehreren Happen gelesen. Teilweise wirklich deswegen, weil ich sie ganz schön heftig fand. Du hast es echt verstanden, mich in die Zeit einzusaugen und ich brauchte wohl immer wieder Momente, um mich daraus zu befreien.
Diese Wahn-Spiralen, ich will gar nicht sagen, dass ich alles 100%ig verstanden habe, aber das ist auch nicht nötig, für mich zumindest nicht. In seiner Gesamtheit ergibt das einen düster-stimmigen, runden Charakter. Dass es dir gelungen ist, das Ende sogar mit einem Hoffnungsschimmer zu versehen - respekt.
Wie du hier mit der Formatierung umgegangen bist, spricht mich sehr an. Das ist echt nicht so leicht, das nicht zu übertreiben, es nicht als Spielerei zu missbrauchen, sondern als Unterstützung des Inhalts anzuwenden. Das hast du hier meisterlich angewendet. (hoffentlich löst du damit keinen Trittbrettfahrertrend aus :aua:) Jetzt verstehe ich auch, wie du das mit deinem Post im Mod-Forum meintest.

Mehr Worte will ich gar nicht verlieren. Das Deuteln und Kritteln überlass ich an dieser Stelle mal anderen. Ich habs mit einem Schaudern genossen.

grüßlichst
weltenläufer

 

Hallo Friedel!

Danke für deine intensive Beschäftigung mit dem Text!

Ein nüchterner Ansatz wäre die Schilderung duch einen Waffenkonstrukteur (meinetwegen namens Mauser, ein Name, der sich anböte und zudem ein schön mehrdeutiger Name wäre).
Das würde wohl zu lange werden. Das eigentliche Konzept hinter dem "Flug der Kugel" ist es, die gesamte Handlung der Geschichte in den ersten Satz zu pressen. Schauplatz, Protagonist, die Vernichtung der alten Zeit durch den Krieg, die Löcher, der Wechsel zwischen den Welten, der sich anpassende Stil ... alles im ersten Satz zu finden.

Warum sollte nicht das Loblied auf die Ingenieurkünste und das Zusammenspiel von treibender Kraft, geradlinigem Lauf, wunderschöner ballistischer Kurve und Präzision gesungen werden?, wie schon kurz im ersten Kommentar angerissen, was den Knall denn „mache“ –
Das schreit ja geradezu nach Lyrik. ;) Gegen die habe ich nichts, aber hier passt sie nicht.

aber plötzlich, heute, – dritter Gedanke - kommt mir der „Sprachlehrer“ Kraus unter, der da behauptet, „der Konjunktiv imperfecti“ sei „das Prunkstück der Bildung“ [zitiert nach Heft 751 – 756 der Fackel vom Februar 1927, S. 41, neuveröffentlicht unter Austrian Academy Corpus: AAC-FACKEL / Online Version: »Die Fackel. Herausgeber: Karl Kraus, Wien 1899-1936« / AAC Digital Edition No 1], dass dem idyllisch anmutendem Konjuntiv II der Indikativ verstörend gegenübergestellt werden könnte (puh, da wird manchem der Angstschweiß ausbrechen)
Mit dem Angstschweiß magst du recht haben ... Lyrik wäre viel einfacher gewesen. :D

Langsam [verließe] die Kugel den Lauf des[mausigen*= frech / vorlauten] Gewehrs; [sei / wäre sie auch] schneller als der Schall, schneller, als das menschliche Auge erfassen kann, […] verweilt[e] sie [doch]in ihrer eigenen Zeit, einer Zeit, in der alles still[stünde] und Grabesruhe herrscht[e]; so[flöge] sie gemächlich über den Isonzo, ein[em] blau erstarrte[n] Band, Baumruinen säumen tote Ufer, fast meint man, sie würde niemals den Ort ihrer Bestimmung erreichen … doch dann, endlich!, nach einer [winzigen] Ewigkeit, ist sie an ihrem Ziel angelangt – ein Mann mit dem Rücken zu ihr, vor undenklichen Zeiten aufgestanden –; das Metall seines Helms macht[e] ihr bereitwillig [besser alternativ: widerstandslos, denn dass der Helm seine Funktion nicht erfüllen kann wird er nicht sonderlich bereitwillig zugeben] Platz, der Hinterkopf wird eingedrückt, im Hirn erkl[ä]ngen ferne Walzerklänge, Ballsaal einer sterbenden Epoche, die Stirnplatte wird weggesprengt und die Kugel bleibt in der Erde des Schützengrabens stecken.
Dieses Konjunktiv-Konzept ist wirklich interessant, aber einen Tick zu verkopft. Es verlangt nach einer Erklärung, einer Auflösung. Aber dann wären wir wieder bei dem Problem, dass wir zu viel Zeit für einen Part aufwenden, der eigentlich nur auf einen Satz beschränkt sein sollte. Der Techniker käme nie wieder vor und seine Gedanken würden damit ohne Erklärung im luftleeren Raum hängen.

- "mausig" finde ich drollig. Aber ich fürchte, das verstehen 98 % nicht.
- Die "winzige Ewigkeit" finde ich gelungen, das übernehme ich, danke dafür. Mit der "scheinbaren Ewigkeit" war ich nie zufrieden. Ursprünglich stand da nur "Ewigkeit", aber das war zu kurz und zu ungenau.
- "widerstandslos" ist in diesem Fall besser als "bereitwillig", da hast du recht. Habe es übernommen.

Abschließend ein kurzer Hinweis zum Gaskrieg: es waren deutsche Truppen, die als erste an der Westfront das damals schon nach internationalem Recht – dem auch „an sich“ das Kaiserreich folgte – geächtete Gas verwendeten. Treibende Kraft in der Entwicklung von Chlor und Phosgen zum Kampfgas war ein späterer Nobelpreisträger, dessen Name noch heute im Haber-Bosch-Verfahren bei der Ammoniak-Synthese verewigt wird: Fritz Haber, was einen skeptischen Blick und Schatten auf die Moral unserer größten Wissenschaftler wirft.
Erst in der Battaglia di Caporetto, der zwölften Schlacht am Issonzo im Oktober 1917 kam mit den deutschen Truppen der Gaskrieg (i. d. R. als Phosgen) an den Isonzo und damit die Niederlage der Italiener – die kein Gas verwendeten.
Jein. Wenn man Gasgranaten meint, dann stimmt es. Die wurden am Isonzo tatsächlich erst ab Herbst 1917 verwendet. Beim sogenannten "Blasangriff" (das Gas kommt aus Gasflaschen) ist das anders, das wurde bereits ab Sommer 1916 praktiziert. Man ging zum alten Kaiser und erzählte ihm, der Feind habe Giftgas eingesetzt. Dieser glaubte das und ab diesem Zeitpunkt war Giftgas an allen Fronten im Einsatz.


Hallo weltenläufer!

ein riesen Kompliment für dieses wuchtig starke Stück.
Vielen Dank! *rotwerd*

Wuchtig, dieses Wort geistert die ganze Zeit in meinem Kopf rum, wenn ich an deine Geschichte denke. Ich habe die Geschichte in mehreren Happen gelesen. Teilweise wirklich deswegen, weil ich sie ganz schön heftig fand. Du hast es echt verstanden, mich in die Zeit einzusaugen und ich brauchte wohl immer wieder Momente, um mich daraus zu befreien.
Das muss ich mir einrahmen. :)

Diese Wahn-Spiralen, ich will gar nicht sagen, dass ich alles 100%ig verstanden habe, aber das ist auch nicht nötig, für mich zumindest nicht. In seiner Gesamtheit ergibt das einen düster-stimmigen, runden Charakter. Dass es dir gelungen ist, das Ende sogar mit einem Hoffnungsschimmer zu versehen - respekt.
Das Ende war eigentlich nicht so geplant. Dieser Teil hier ist das ursprüngliche Ende:
Alles Gute und Schöne, alles!, wofür es sich gelohnt hat zu Leben, ist verschwunden, untergegangen im gnadenlosen Stahlgewitter eines Weltkriegs. Leb wohl, mein Österreich. Leb wohl, mein lieber, guter Kaiser.
Er hat mich verlassen und mir ist kalt.
Das habe ich ziemlich früh geschrieben, gleich nach der Szene mit der Felslawine. Doch dann habe ich Júlia "getroffen" und dieses düstere Ende passte nicht mehr ganz ins Konzept. Júlia hat ganz anders gewirkt, als eigentlich vorgesehen war. Also musst ich noch etwas draufsetzen.

Wie du hier mit der Formatierung umgegangen bist, spricht mich sehr an. Das ist echt nicht so leicht, das nicht zu übertreiben, es nicht als Spielerei zu missbrauchen, sondern als Unterstützung des Inhalts anzuwenden. Das hast du hier meisterlich angewendet.
Freut mich sehr, dass die Formatierung so gut ankommt. Sie soll mehr als schmückendes Beiwerk sein, soll den Protagonisten im Idealfall aktiv unterstützen. Toll, dass das anscheinend funktioniert.
Vorbilder für die Formatierungen waren Geschichten von Tobias O. Meißner (Hiobs Spiel) und Mark Z. Danielewski (House of Leaves) – beides Horrorautoren. Insofern hat Friedel also recht, wenn er sagt, dass da Horror-Elemente drin sind.

(hoffentlich löst du damit keinen Trittbrettfahrertrend aus :aua:)
Wenn die Formatierungen intelligent verwendet werden, ist eigentlich nichts dagegen einzuwenden.
Es gibt zu wenig (sinnvolle) Experimente.

Jetzt verstehe ich auch, wie du das mit deinem Post im Mod-Forum meintest.
Mit dem normalen vB-Code bekommt man die Formatierungen nicht so flüssig hin, wie sie oben zu sehen sind. Man muss in die Trickkiste greifen. Und dabei geht verdammt viel Zeit drauf. In diesem Fall zwei Tage.

Mehr Worte will ich gar nicht verlieren. Das Deuteln und Kritteln überlass ich an dieser Stelle mal anderen. Ich habs mit einem Schaudern genossen.
Merci!

(Himmel, schon halb drei! Ich muss noch am Roman arbeiten!)

Viele Grüße euch beiden,
Blaine

 

Hallo Blaine,

jetzt muss es wirken, als nähme ich teelöffelweise Deine beeindruckende Geschichte zu mir. Aber zu dem Satz

Das Loch, das die Religion bei ihrem Rückzug hinterlassen hat, wurde vom Kaiser mit neuer Zuversicht gefüllt.
ist mir gerade erst einiges gedämmert.
Das Loch ist sicherlich nicht unrichtig an der Stelle gesetzt. Aber dieses Mal ist es, als verlangte der Text von mir, dem Leser und Kraus-Verehrer, für den toten Kaiser als Füllsel / Ersatz für den Glaubensverlust nach einem treffenderen Begriff für die Umschreibung des toten Kaisers als Lückenbüßer,
obwohl das Loch in der Tat mit Locke (!), Luke und Lücke nicht nur durch den Klang minteinander verwandt sind. Dabei will’s Gefängnis (= umgangssprachlich "Loch") im Kopf weniger treffen als

"die Lücke, welche"
die Religion bei ihrem Rückzug hinterlassen hat, …

Ich bitte die kleine Störung zu entschuldigen!

Gruß

Friedel

 

Hallo Friedel!

Das Loch, das die Religion bei ihrem Rückzug hinterlassen hat

"Die Lücke" ist hier tatsächlich die bessere Wortwahl. Es ist ja kein Loch im Sinne der Geschichte, also ein Portal oder Tor. Diesen leeren Bereich als Loch zu bezeichnen war ein ungeliebter Kompromiss, weil ich eine Konstruktion aus zwei gleichen Artikeln hintereinander vermeiden wollte:

Die Lücke, die die Religion bei ihrem Rückzug hinterlassen hat

Auf die Möglichkeit, dass man auch "welche" einsetzen kann, bin ich damals entweder nicht gekommen oder mir hat das Resultat nicht gefallen. Meine Erinnerung ist da lückenhaft ...
Wie auch immer: Ich hab's umgeschrieben. Ob das eine neue Versionsnummer rechtfertigt, ist natürlich eine andere Frage. *g*

Viele Grüße
Blaine

 

Wusst' ich's doch,

lieber Blaine,

oder hab's zumindest geahnt. Hat man schon mal, solche Blockaden (die ja auch Lücken sein können). Aber dafür tun sich bei mi zwo Dinge auf. Zum einen weiß ich mit dem

also dieser "modernistischen" Symbolik nix anzufangen - es ist für mich ein Bilderrätsel - schließlich stamm ich aus einem fernen Jahrtausend - , aber zur Strafe müsste ich den Text empfehlen, ragt er doch meilenweit über das hinaus, was man zuletzt hier durchmachen musste ...

Schau'n wir mal!

Gruß

Friedel

 

Hey Friedel,

vielen Dank für den tollen Empfehlungstext! *freu*
Die Inflektive zwischen den Sternchen sind ein billiger Weg, um Smileys zu sparen. Sie sind ein bisschen seriöser, wenn auch nicht viel. *g* ist die Kurzform von *grins*- also ein Grinsen.


Hallo Christian!

Ich habe die Geschichte nur bis zur Hälfte gelesen, weil ich, ehrlich gesagt, irgendwann das Interesse daran verlor.
Kein Problem, der Inhalt muss nicht jedem zusagen. Der zweite Teil, das Theaterstück, kommt ganz anders daher als der erste - wenn auch nicht unbedingt einfacher. *lach*

Sprachlich ist die Geschichte einwandfrei, komplexe Abläufe werden nachvollziehbar erklärt, die Absätze erleichtern die Orientierung.
Danke!

Was mich an der Geschichte stört, ist auf meinen subjektiven Geschmack zurück zu führen. Ich musste während des Lesens permanent an Remarques IM WESTEN NICHTS NEUES denken, der sprachlich gesehen genau den entgegengesetzten Weg geht, den du nimmst. Remarques einfache Sprache, sein simples Berichten und die Abwesenheit jeglicher Emotionen hat zumindest bei mir mehr Erschaudern ausgelöst als die sprachlich versierte Erzählweise deines Offiziers.
Im Westen nichts Neues ist eines meiner Lieblingsbücher. Die Weltkriegs-Szenen dieses Textes orientieren sich entfernt daran, meine Geschichte geht allerdings in eine ganz andere Richtung. Ein Charakter vom Schlage eines Paul Bäumer wäre da ungeeignet gewesen, weil dieser zu einfach geartet ist. Meine Geschichte benötigt einen fantasievollen Spinner, sonst funktioniert sie nicht.

Das beginnt schon mit der Kugel, die am Anfang langsam, aber doch schnell saust und geht weiter bei der Theorie der Momente. Ich habe mich gefragt, ob solche Gedankenspiele eines Offiziers nicht von der Grausamkeit des Krieges ablenken und ihr eventuell sogar eine poetische Note verleihen.
Meine Intention ist eine andere als die von Remarque. Ich will nicht den Schrecken des Krieges rüberbringen - jedenfalls nicht in erster Linie -, sondern den Untergang einer Welt zeigen. Das darf auch ruhig poetisch sein. Nicht umsonst kommen in der Geschichte keine Feinde vor. Es gibt weder italienische Soldaten noch serbische Attentäter.

Auch kann ich deine kreativen Textbausteine (z.B. beim Einsetzen des Feuers oder beim Regnen der Felsen) nicht vorurteilsfrei loben. Ich finde nämlich nicht unbedingt, dass sie das Geschehen anschaulicher machen.
Ich selbst würde die abenteuerlichen Formatierungen auch nicht überbewerten, weil sie letztendlich nur Gehilfen von Plot und Prot sind. Beim Lesen sollen einem die Trümmer um die Ohren fliegen, Inhalt und Erzählfluss dürfen nicht voneinander getrennt sein. Damit will ich ein intensiveres Leseerlebnis erreichen - aber ich muss wohl akzeptieren, dass das nicht jedem zusagt.

Letztendlich muss ich sagen, dass ich schnörkellose Erzählungen angenehmer zu lesen finde als dein sprachliches Feuerwerk. Das ist aber, wie immer, mein ganz persönlicher Geschmack.
Mach nix, mit "sprachlichem Feuerwerk" kann ich sehr gut leben. :)
An erster Stelle kommen bei mir eigentlich die Protagonisten, dann die Handlung, dann der Stil. Wenn hier ein gegenteiliger Eindruck entsteht (vielleicht, weil Stil und Protagonist nicht so einfach zu trennen sind), dann war es nicht beabsichtigt.

Sprachlich und inhaltlich ist der Text trotz allem professionell und könnte so auch in Buchform erscheinen und wäre dann immer noch besser als vieles, was so im Buchladen herumliegt.
Vielen Dank!

Viele Grüße
Blaine

 

Die Inflektive ... sind ein billiger Weg, um Smileys zu sparen.
Was mache'mer dann mit'm vielen Gesparten? Schicken wir's Ersparte den Griechen, sie zu erheitern, bei meinem Barte! weiß keiner, ob ich lächle oder grins. Wofür Gestrüpp alles gut sein kann ...#


lieber Blaine,

aber nix zu danken! Hastu Dir verdient!

Friedel

 

Hallo Blaine,

ich hoffe, du bist mir nicht böse, wenn ich zugebe, dass ich die Geschichte nicht gelesen hätte, wenn sie nicht in dieser Top-2011-Abstimmungsliste gestanden hätte. Aber ich fände es unfair daraus eine Geschichte zu wählen, wenn man nicht alle gelesen hätte.

Doch ich muss zugeben, trotz der mich zunächst abschreckenden Länge und der Längen (besonders im zweiten Teil, das zieht sich schon und da hab ich auch einiges „nur“ quergelesen) ist es eine gute Geschichte, die recht gut die Erlebnisse eines Offiziers im 1. WK schildert. Sowohl die tatsächlichen, als auch die sich in seinem, durch eine Schussverletzung wohl arg in Mitleidenschaft gezogenen Gehirn, abspielenden. Es war dies auch die einzige Geschichte aus dieser Abstimmung bisher, wo ich auch in die anderen Kommentare geschaut habe, weil ich mir unsicher war, ob und wie ich diese Geschichte kommentieren kann und soll.

Ich fühle mich auch außerstande, einen detaillierten Kommentar abzugeben, der müsste, sollte er der Geschichte in aller Tiefe gerecht werden, wohl eine ähnlichen Umfang haben und würde daher den Rahmen sprengen.

Nur soviel. Der erste Teil gefiel mir recht gut, trotz oder vielleicht gerade wegen der teilweise gewöhnungsbedürftigen Darstellungsweise, mit eingeschobenen Kommentaren, mit der Mischung aus Gesprochenem und Gedachtem, den unorthodox gestalteten Absätzen. Das verwirrte zunächst, schafft aber gewissermaßen auch einen dramaturgischen Rahmen, ja es erinnerte mich beinahe an ein Bühnenbild, sodass das Ganze insgesamt eher an ein Theaterstück als eine Geschichte erinnerte. Das kommt dann ja auch im zweiten Teil – und hier wird es schon teilweise surrealistisch und ich fühlte mich an Bilder von Dali oder an Stummfilmszenen von Fritz Lang erinnert. Aber im Prinzip gut dargestellt, diese Zerrissenheit, dieser Wechsel aus Gedanken und Handlung, diese – ja ich nenne es mal Fieberträume über den Kaiser oder den schwarzen Ritter, diese intensive Symbolik, deren Deutung ein weiteres Lesen erforderlich machen würde.

Deswegen habe ich mir die Geschichte auch heruntergeladen und werde sie aus ausdrucken und später nochmal lesen, denn ich glaube sie liest sich leichter auf Papier, noch besser wäre in Buchform.

Sprachlich ist sie sehr wuchtig, aber auch gewöhnungsbedürftig, eigentlich nicht mit normalen Maßstäben zu messen. Sie hebt sich auch insofern von den anderen Geschichten, die ich bisher in dieser Abstimmungliste (aber auch allen anderen im Forum) ab und man kann sie eigentlich kaum mit den gleichen Maßstäben messen.

Es grüßt ein nach dieser anstrengenden Lesung müder

Fred B

 

Hallo Fred!

ich hoffe, du bist mir nicht böse, wenn ich zugebe, dass ich die Geschichte nicht gelesen hätte, wenn sie nicht in dieser Top-2011-Abstimmungsliste gestanden hätte.
Nein, überhaupt nicht. Mir ging es genauso, nur eben mit anderen Geschichten. Dass diese Geschichte zwar im Prinzip interessant, aber sicher nichts für die Masse ist, ist mir bewusst. Sie ist ja nicht nur die längste in der Auswahl, sondern auch die mit Abstand anstrengendste. Der französische Titel, die Rubrik, das Sujet, die Mischung aus Epik und Drama, das alles dürfte erster Linie abschreckend wirken.

Doch ich muss zugeben, trotz der mich zunächst abschreckenden Länge und der Längen (besonders im zweiten Teil, das zieht sich schon und da hab ich auch einiges „nur“ quergelesen) ist es eine gute Geschichte, die recht gut die Erlebnisse eines Offiziers im 1. WK schildert.
Danke! Das mit der Länge ist so eine Sache. Länge ist ja relativ. Stünde die Geschichte in einem Buch, würden sich die Leser wahrscheinlich über die zu geringe Länge beschweren. ;)
Und die erzählerischen Längen sind notwendig, fürchte ich. Denn wenn ich den zweiten Teil kürzte, wäre er noch anstrengender zu lesen. Es handelt sich schließlich um zwei Perspektiven – oder auch um einen Protagonisten mit zwei Sichtweisen –, die sich in einer Epik-Drama-Mischung einen Schlagabtausch liefern.
(Himmel, wer schreibt denn so was?)

Es war dies auch die einzige Geschichte aus dieser Abstimmung bisher, wo ich auch in die anderen Kommentare geschaut habe, weil ich mir unsicher war, ob und wie ich diese Geschichte kommentieren kann und soll.
Ich wurde schon öfter gefragt, ob man für die Geschichte eine bestimmte Qualifikation brauche. Ich antworte dann meist, dass ein Geschichtsstudium oder zumindest ein Studium der Literaturgeschichte (mit Schwerpunkt auf der Wiener Moderne) notwendig sei, um die Geschichte zu verstehen.
Und die Leute nehmen das auch auch noch ernst, köstlich. :D

Ich fühle mich auch außerstande, einen detaillierten Kommentar abzugeben, der müsste, sollte er der Geschichte in aller Tiefe gerecht werden, wohl eine ähnlichen Umfang haben und würde daher den Rahmen sprengen.
Ich bestehe nicht auf tiefschürfenden Kommentaren. Ein "hat mir gefallen" oder ein "grottenschlecht, schreib was anderes" oder ein "wirf die Formatierungen raus, das ist doch keine Literatur!" reichen mir vollkommen. Überspitzt gesagt.

Nur soviel. Der erste Teil gefiel mir recht gut, trotz oder vielleicht gerade wegen der teilweise gewöhnungsbedürftigen Darstellungsweise, mit eingeschobenen Kommentaren, mit der Mischung aus Gesprochenem und Gedachtem, den unorthodox gestalteten Absätzen. Das verwirrte zunächst, schafft aber gewissermaßen auch einen dramaturgischen Rahmen, ja es erinnerte mich beinahe an ein Bühnenbild, sodass das Ganze insgesamt eher an ein Theaterstück als eine Geschichte erinnerte.
So war es gedacht, ja. Immer krassere Stilwechsel und Formatierungen, die einen langsam an den Drama-Teil heranführen sollen. Und dort geht es dann richtig los. Der Leser darf es sich nicht gemütlich machen, er muss ständig geschubst werden.

Das kommt dann ja auch im zweiten Teil – und hier wird es schon teilweise surrealistisch und ich fühlte mich an Bilder von Dali oder an Stummfilmszenen von Fritz Lang erinnert. Aber im Prinzip gut dargestellt, diese Zerrissenheit, dieser Wechsel aus Gedanken und Handlung
Vielen Dank!

Deswegen habe ich mir die Geschichte auch heruntergeladen und werde sie aus ausdrucken und später nochmal lesen, denn ich glaube sie liest sich leichter auf Papier, noch besser wäre in Buchform.
Dass du sie noch einmal lesen willst, freut mich sehr.

Sprachlich ist sie sehr wuchtig, aber auch gewöhnungsbedürftig, eigentlich nicht mit normalen Maßstäben zu messen.
Danke! *rotwerd*

Sie hebt sich auch insofern von den anderen Geschichten, die ich bisher in dieser Abstimmungliste (aber auch allen anderen im Forum) ab und man kann sie eigentlich kaum mit den gleichen Maßstäben messen.
Da stellt sich mir die Frage, ob das gut oder schlecht ist ...

Vielen Dank fürs Lesen und Kritisieren!
Blaine

 

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